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4.1 Orientierung

Das Phänomen des menschlichen Schließens besteht darin, aus vorhandenem Wissen weiteres Wissen nach einem bestimmten logischen Mechanismus schlußfolgern zu können.gif Der Versuch, dieses Phänomen mit einem System zu reproduzieren, muß also in einer Bestimmung von und bestehen. Dies beinhaltet zunächst die Aufgabe, eine Sprache zur Repräsentation von und zur Verfügung zu stellen. Ein wesentlicher Aspekt von Kapitel 2 war die Einsicht, daß sich zur Repräsentation von Wissen die logische Sprache hinsichtlich der Ausdruckstärke mindestens ebenso eignet wie alle anderen dort besprochenen Formalismen. Wir können demzufolge davon ausgehen, daß ebenso wie eine logische Formel ist.gif

Das vorhandene Wissen läßt sich nun als Interpretation der Formel auffassen. Das Gleiche gilt für das erschlossene Wissen . Der Mechanismus verknüpft mit diesen Bezeichnungen also mit , und zwar handelt es sich mathematisch gesehen hierbei um eine Relation.

Vor mehr als zweitausend Jahren haben Aristoteles und andere bereits die Entdeckung gemacht, daß es bei der Relation nur auf die syntaktische Struktur von und und nicht auf die Interpretation ankommt. Da sich diese These von der syntaktischen Natur der Logik über zweitausend Jahre gehalten hat, gehen wir auch hier von ihrer Richtigkeit aus und fassen daher als Relation von Formeln auf.

Unsere Aufgabe der Modellierung des Schließens in einem System läßt sich nach diesen Vorbemerkungen wie folgt formulieren. Gesucht ist eine Relation , so daß Formeln und genau dann in der Relation stehen, dh. , wenn der Mensch aus erschließt, wobei beliebig ist. Diese Aufgabe liest sich in dieser Formulierung einfacher als sie in Wirklichkeit ist. Einige der Schwierigkeiten seien im folgenden erwähnt. Dabei stecken wir gleichzeitig den Rahmen und Aufbau des vorliegenden Kapitels ab.

Da sich alles menschliche Wissen bezweifeln läßt, liegt die erste Schwierigkeit bereits in den getroffenen Annahmen der Repräsentation von und als logischen Formeln sowie der Richtigkeit der These der syntaktischen Natur der Logik. An diesen Annahmen werden wir, wie gesagt, jedoch im Rahmen dieses Buches festhalten.

Die zweite wichtige Schwierigkeit liegt in der vollständigen Bestimmung von bei der Formulierung einer Aufgabenstellung jeglicher Art. Wir haben diese Schwierigkeit als Qualifikationsproblem bereits am Beginn des letzten Kapitels kennengelernt, dessen gesamter Inhalt durch dieses Problem zu einem großen Teil motiviert ist. Das dort besprochene nichtmonotone Schließen entsteht gerade dadurch, daß nicht vollständig bekannt ist und aufgrund von Annahmen über normale Sachverhalte pauschal vervollständigt wird.

Die dritte wichtige Schwierigkeit liegt in der Charakterisierung der Relation . Dabei wirkt sich umso erschwerender die zweite Schwierigkeit aus, da die Schwierigkeiten ja alle miteinander verknüpft sind und daher nicht unabhängig voneinander gelöst werden können.

Ein zusätzliches Problem bei der dritten Schwierigkeit ist die Vielfältigkeit der Inferenzrelation. So hat [Pei31] drei Formen von Inferenz unterschieden, nämlich Deduktion, Abduktion und Induktion, die wir im folgenden kurz diskutieren; wir verweisen den Leser schon an dieser Stelle auf die Tabelle 4.1, in der die verschiedenen, in diesem Buch behandelten Inferenzformen tabellarisch gelistet sind.

Nach heutiger Vorstellung läßt sich die erstere wie folgt charakterisieren.

Deduktion ist die Ableitung eines (oder mehrerer) Ausdrücke einer formalen Sprache aus einer Menge von Ausdrücken dieser Sprache mittels der Anwendung generischer Regeln.
Peirce schränkte bei der Deduktion die Ausgangsausdrücke auf Beschreibungen von Sachverhalten (engl. cases) ein, so daß nach seiner Meinung Deduktion Resultate aus Sachverhalten mittels Regeln erzielt. Deduktive Mechanismen werden jedoch heute nicht nur in diesem eingeschränkten Sinne entwickelt. Charakteristischer ist zum einen die Vorstellung, daß die Regeln gerichtet sind und die linke Seite der jeweils angewandten Regel durch Ausgangsausdrücke oder bereits abgeleitete Ausdrücke instantiiert wird, woraus sich dann die rechte Seite eindeutig ergibt. Zum anderen ist Deduktion mit der Vorstellung verbunden, daß sie vom Allgemeinen zum Speziellen führt und dabei eine bestimmte Eigenschaft invariant läßt, wie zB. die Wahrheit der Ausdrücke im Falle von Aussagen oder den Wert der Ausdrücke im Falle von Termen. Wir sehen diese beiden Vorstellungen als nicht inhärent mit dem Begriff Deduktion verbunden, den wir im Sinne der obigen Definition allgemeiner verstehen. Deduktion wird im vorliegenden Buch jedoch nicht explizit behandelt. Der Leser wird hierzu auf [Bib92] verwiesen.

Nach Peirce ist Abduktion das Erschließen eines (Ausgangs-) Sachverhalts aus einem Resultat aufgrund generischer Regeln (siehe Tabelle 4.1). In kausalen Zusammenhängen ist es das Erschließen der Ursachen aus beobachteten Wirkungen, dh. der Erklärung von Beobachtungen. Technisch ist Abduktion eine Form der Deduktion, wie sie oben charakterisiert ist. Das eine von zwei Merkmalen, die intuitiv Abduktion von der Deduktion unterscheiden, ist die Instantiierung der rechten Seiten der Regeln und das Erschließen der linken Seiten. Bei genauerem Hinsehen verflüchtigt sich der Unterschied jedoch. Regeln charakterisieren Relationen unter Ausdrücken. Ihre Richtung ist technisch somit von untergeordneter Bedeutung; sie kann beliebig gewählt werden. Insbesondere unter Einbeziehung der Metaebene läßt sich die Abduktion explizit als Deduktion formulieren [CDT91], was wir im Zusammenhang mit der Induktion in Abschnitt 4.3.2 genauer ausführen.

Das andere Unterscheidungsmerkmal betrifft die bei der Deduktion genannte Invarianz der Wahrheit von Aussagen. Werden alle Ausgangsaussagen als wahr angenommen, so ist auch jedes deduktiv abgeleitete Theorem (bei korrekter Wahl der Deduktionsregeln) wahr. Eine Beobachtung (wie zB. nasses Gras) kann verschiedene Ursachen (zB. Regen, laufender Sprenger) haben. Der abduktive Schluß auf eine dieser möglichen Ursachen kann also falsch sein. Dies ist aber ein semantisches Argument, das der These von der syntaktischen Natur der Logik widerspricht. Zudem unterstellt das Argument eine inkorrekte Regelumkehr (bzw. Handhabung der durch die Regeln gegebenen Relation). Im genannten Beispiel heißt die korrekte Umkehr nämlich, daß die Ursache nassen Grases Regen oder der Sprenger ist: bei einem abduktiven Schluß auf diese Disjunktion bleibt die Wahrheit offensichtlich erhalten wie auch sonst bei der Deduktion.

In [EG93] ist gezeigt, daß Abduktion komplexitätstheoretisch aufwendiger als Deduktion ist. Dabei wird Deduktion jedoch in einem engeren Sinne als oben definiert betrachtet, so daß sich auch aus diesem Ergebnis nicht wirklich ein signifikanter Unterschied dingfest machen läßt.

Wenn wir entsprechend dieser Überlegungen auch an der begrifflichen Festlegung, daß Abduktion eine Form der Deduktion sei, festhalten, so sollen einige pragmatische Gesichtspunkte zur Abduktion dennoch im Abschnitt 4.3.1 kurz erläutert werden.

Nach Peirce ist Induktion das Erschließen der Regel aus dem Sachverhalt und dem Resultat, man könnte auch grob sagen, das Erschließen des Allgemeinen aus dem Speziellen (siehe Tabelle 4.1). Technisch erweist sich auch die Induktion als eine Form der Deduktion. Sachverhalt und Resultat bilden dabei die Ausgangsausdrücke, aus denen mittels bestimmter Generalisierungsregeln auf allgemeine Gesetzmäßigkeiten (dh. Regeln) geschlossen wird. Bezüglich vermeintlicher Unterscheidungsmerkmale gilt im wesentlichen das bei der Abduktion Gesagte. Jedoch sind auch hier pragmatische Gesichtspunkte sowie insbesondere die Frage nach den Generalisierungsregeln von Interesse. Es ist auch nicht ganz leicht, formal Sachverhalte von Regeln zu unterscheiden, weshalb auch der Unterschied zwischen Abduktion und Induktion fließend ist. Wir fassen deshalb Abduktion als einen Spezialfall der Induktion auf und behandeln sie dementsprechend innerhalb eines Abschnittes 4.3 über hypothetisches und induktives Schließen. Insgesamt wird in diesem Abschnitt eine Reihe verschiedener Aspekte des hypothetischen Schließens bis hin zum Analogieschließen (siehe Tabelle 4.1) und fallbasierten Schließen behandelt.

Die Unvollständigkeit und Unsicherheit unseres Wissens über die Welt läßt sich auch dadurch berücksichtigen, daß wir den Aussagen einen Grad von Sicherheit beilegen und diese Wahrscheinlichkeitsmaße beim Schließen mit berücksichtigen (siehe Tabelle 4.1). Dies führt wiederum zu einem nichtmonotonen Verhalten des Schließens, da zusätzliche Informationen die Sicherheit des Wissens beeinflussen können. Zum Teil gehört also derartiges probabilistisches Schließen zum Inhalt des vorangegangenen Kapitels, ist aber auch von eigenständiger Bedeutung, weshalb es im vorliegenden Kapitel mit einem eigenen Abschnitt 4.4 berücksichtigt ist. Dabei interessiert uns insbesondere die Einbeziehung in einen logischen Rahmen, um damit auf die Vision eines Gesamtsystems hinzuarbeiten, das all diese Formen des Schließens in sich vereinte und sich so als wahrhaft intelligent erweisen könnte.

Wir können drei verschiedene Quellen stochastischen Verhaltens unterscheiden. Die eine Quelle ist der Akteur des Geschehens, dh. ich selbst oder der Roboter. Sie speist sich aus dessen Intentionen und seiner Wissensbasis. Wenn man von Aspekten wie Intentionen, Wünschen etc. absieht, so kann man sagen, daß sich ein überwiegender Teil des Buches mit den diesbezüglichen Aspekten beschäftigt. Die zweite Quelle ist die Natur, die wir Menschen nicht voll durchschauen, so daß uns das Geschehen oft nur mit wahrscheinlichkeitstheoretischen Mitteln zugänglich wird, bzw. die im quantenmechanischen Bereich den Zufall offenbar eingebaut hat. Die Berücksichtigung sowohl des Akteurs als auch dieser Wahrscheinlichkeiten der Außenwelt macht das aus, was in der Entscheidungstheorie erfaßt werden soll. Die Formalismen dieses Buches sowie insbesondere die Integration der in Abschnitt 4.4 besprochenen probabilistischen Ansätze liefern daher potentiell eine formale Grundlage der Entscheidungstheorie. Nimmt man noch die dritte Quelle hinzu, die aus dem Gegner oder Partner, dh. dem oder den anderen Akteuren, besteht und integriert sie in gleicher Weise, so ergibt sich potentiell insgesamt eine formale Basis der Spieltheorie [RSZ79], die wiederum als Modell der Wirtschafts- und Gesellschaftstheorie betrachtet werden kann. Wir erwähnen diese von David Poole (in persönlicher Diskussion) gemachten Perspektiven, um die Tragweite der Formalismen dieses Buches auch über den zunächst enger gesteckten Anwendungsrahmen hinaus anzudeuten.

Deduktion vollständig bekannt, gesucht (oder getestet)
Normalität unvollständig, aber ``normal'', also vervollständigbar
Abduktion im faktischen Teil unvollständig
Induktion im Regelteil unvollständig
Analogie zu unvollständig, aber zu analogem bekannt
Probabilistik unsicher, probabilistische Information verfügbar
Vagheit und unpräzise
Diagnose zu unbekannt, aber korrektes zu normalem bekannt
Planen ressourcensensitives
Raum, Zeit bereichsspezifisches
Tabelle 4.1: Inferentielle Problemstellungen

Die Ungenauigkeit der Weltbeschreibung kann sich schon in den verwendeten Grundbegriffen äußern, die wegen ihrer Vagheit keine präzisen Lösungen zuläßt. Vages Schließen ist daher eine weitere Dimension im Raum der Inferenz, das wir in Abschnitt 4.5 behandeln.

Diagnose ist seiner grundsätzlichen Natur nach eine Form des hypothetischen Schliessens. Einerseits ist es aber von sehr spezieller Gestalt, weil über die gesuchte Weltbeschreibung nur ein Detail unbekannt ist, wie die Tabelle 4.1 zeigt. In der Praxis ist Diagnose jedoch von allgemeinerer Natur, wobei durchaus auch andere Formen des Schließens, wie etwa das probabilistische Schließen, eine wichtige Rolle spielen können. Aus diesem Grunde ist die Behandlung erst an der Stelle 4.6 des Buches plaziert.

Alle bis dahin behandelten Inferenzformen sind insoweit abstrakter Natur, als die betrachteten Regeln am Zustand der Welt nichts ändern. Beim Planen ist demgegenüber eine neue Qualität dahingehend zu berücksichtigen, daß Regeln, die Aktionen beschreiben, die Welt bei ihrer Ausführung verändern. Dies erfordert eine ressourcensensitive logische Behandlung. Auf diesem Gebiet sind in den letzten Jahren wichtige Einblicke erzielt worden, die wir in Abschnitt 4.7 ausführlich besprechen.

Der verbleibende Rest dieses Kapitels widmet sich bereichsspezifischem Schließen. Allem voran ist der Parameter ``Zeit'' von so fundamentaler Bedeutung, daß dieser spezielle Bereich des zeitlichen Schließens eine eigene Behandlung verdient, die zusammen mit einer kurzen Behandlung des räumlichen Schließens in Abschnitt 4.8 erfolgt. Daran schließt sich abschließend eine kurze Diskussion zur qualitativen Behandlung physikalischer Systeme an.

Wir beginnen dieses Kapitel im nachfolgenden Abschnitt mit dem Metaschließen, bei dem es sich eigentlich um ein Thema des rein klassischen Schließens handelt. Nur sind hier die Objekte der Betrachtung nicht Gegenstände in der Welt, sondern die syntaktischen Konstrukte all unserer Formalismen selbst. Für ein wahrhaft intelligentes System ist es unerläßlich, daß dieses Kenntnisse über seinen eigenen Wissensstand hat und hieraus Schlüsse zu ziehen imstande ist. Wegen der besonderen Bedeutung enthält dieser Abschnitt eine ausführliche Behandlung von Wissensbasen, die um ihr Wissen wissen.

Bei der unglaublichen Vielfalt der existierenden Inferenzformen versteht es sich von selbst, daß wir keinerlei Anspruch auf eine erschöpfende Behandlung des gesamten Themenkomplexes erheben können. So sind insbesondere die sich aus der Beschränktheit der menschlichen Ressourcen ergebenden Aspekte überhaupt nicht berücksichtigt. Das schlägt sich in den formalen Systemen als die mit Allwissenheit (engl. omniscience) treffend bezeichnete Eigenschaft nieder, die dem Menschen nie zu eigen ist. Sie besagt, daß alles im betreffenden formalen System Ableitbare dem System auch tatsächlich verfügbar ist. Es gibt eine Reihe von Ansätzen, in denen diese Eigenschaft der Allwissenheit bewußt vermieden wird; sie konnten im Buch nicht behandelt werden.

Ebenso sind die Intentionen, die das Handeln des Menschen wesentlich mitbestimmen, ein Gesichtspunkt, der im ganzen Buch keine Beachtung findet. Wir verweisen daher an dieser Stelle ersatzweise auf eine interessante Arbeit [CL90] zu diesem Thema.gif Hier berühren wir auch erste Ansätze einer Formalisierung argumentativen, kommunikativen, sozialen und politischen Verhaltens; ein paar Bemerkungen hierzu finden sich noch in Abschnitt 4.2.5. Auch deontisches Schließen ist hier zu nennen, bei dem normative Vorgaben unser inferentielles Verhalten bestimmen. Da eine Formalisierung unserer menschlichen Gesellschaft reine Zukunftsmusik ist, erscheint den Autoren die Nichtbehandlung dieser Themen als ein akzeptabler Mangel dieses Buches.



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Christoph Quix, Thomas List, René Soiron
30. September 1996