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4.4 Probabilistisches Schließen

Die in den vergangenen beiden Kapiteln diskutierten Repräsentationsformen und Inferenzmethoden gehen von der Idealisierung einer exakten Beschreibung der Welt und ihrer Zusammenhänge aus. So können wir aus der Eigenschaft, daß Larissa ein Kind ist, auf eine Menge weiterer Dinge schließen. Es muß sich logischerweise um ein Mädchen handeln; dazu muß es ein Elternpaar geben, bestehend aus Mutter und Vater, die beide je mindestens zwölf Jahre älter sind als Larissa. Dieses und vieles andere mehr können wir mit ausreichender Sicherheit aus dieser einen Eigenschaft ableiten, weil uns noch zusätzlich eine Fülle von Wissen über die Welt, also von Weltwissen, zu Gebote steht. Man nennt diese Art von Wissen, auf dem rein logisches Schließen operiert, oft auch kategoriales Wissen.

Unser tägliches Handeln wird, jedenfalls dem Anschein nach, häufig von nicht-kategorialem Wissen bestimmt. Dann verhalten wir uns nach der Art eines Spielers. Um es mit einem Beispiel zu verdeutlichen, wir tragen unser Geld zur Lottoannahmestelle, um es auf 6 von 49 Zahlen zu setzen, wohl wissend, daß bei der Ausspielung auch jede der übrigen Millionen von Zahlensechstupeln eine Chance hat zu gewinnen, in welchem Fall unser Geld verspielt ist.gif

Leider bleibt uns in vielen Fällen gar keine andere Wahl als nach Art eines Spielers zu setzen. Die Welt ist zu komplex, um in einer Menge von Wissen so gefaßt werden zu können, daß es uns immer ein rein logisches Verhalten ermöglichen könnte. Wüßten wir (fast) alles, so müßten wir nicht spielen. Dann würden wir auch die Ausgangslage der 49 Kugeln vor der nächsten Ausspielung kennen und könnten aus der vollständigen Kenntnis der Mechanik der Lottomaschine die richtigen sechs Zahlen im vorneherein logisch erschließen (dann allerdings gäbe es auch kein Lotto mehr).

Lottospielen ist ein Extrem ebenso wie das rein logische Verhalten. In vielen Fällen bewegt sich der Mensch irgendwo zwischen diesen beiden Extremen. Wenn zB. ein Arzt einen Patienten untersucht und bei ihm Kurzatmigkeit feststellt, so weiß der Arzt eine Reihe von möglichen Ursachen dafür, wie zB. Lungenkrebs, Bronchitis oder Tuberkulose. Kein Mediziner auf der Welt kennt exakte Regeln, die ihm erlauben würden, ohne weitere Untersuchungen die richtige Diagnose zu stellen. Dennoch wird jeder vernünftige Mediziner nicht in beliebiger Reihenfolge Untersuchungen auf jede dieser möglichen Ursachen hin anstellen, sondern sein Handeln von einer Abwägung von Wahrscheinlichkeiten leiten lassen, die sich durch einige Fragen an den Patienten ergeben (wie zB. ``Rauchen Sie?''). Insoweit er dies tut (und tun muß), verhält er sich ebenso wie ein Spieler.

Systeme, die Mediziner bei ihrer diagnostischen Arbeit unterstützen sollen, müssen daher wohl diesen probabilistischen Aspekt integrieren. Dieser Aspekt tritt naturgemäß in Gebieten besonders in Erscheinung, die sich wegen ihrer Komplexität einer exakt-logischen Behandlung entziehen. Die Medizin gehört ganz sicher dazu. Genaugenommen sind aber alle Gebiete mehr oder weniger von dieser Natur. Auch Mathematiker gehen bei der Problemlösung nicht rein logisch vor.

Da die menschlichen Spezialisten auf diesen verschiedenen Gebieten als ``Experten'' bezeichnet werden, hat sich für Systeme zur Unterstützung solcher Expertenarbeit der Begriff der ``Expertensysteme'' teilweise eingebürgert. Ihre Entwicklung wurde in den Sechziger Jahren begonnen und erreichte in den Siebziger Jahren ihren Höhepunkt. Sie sind charakterisiert durch eine relativ einfache Kombination der logischen Repräsentation und Verarbeitung von Wissen (in einer der vielen in Kapitel 2 behandelten Variationen) einerseits, mit probabilistischem Wissen andererseits.

Während wir den Leser für eine ausführliche Behandlung von Expertensystemen auf die Literatur verweisen [Jac86], wollen wir eine der probabilistischen Techniken und ihre Kombination mit deduktivem Schließen im ersten Unterabschnitt am berühmten Beispiel von MYCIN kurz illustrieren. Im Anschluß daran werden wir kurz einige Begriffe aus der Wahrscheinlichkeitstheorie vorstellen, dann den Ansatz von Dempster-Shafer illustrieren, der gegenüber der Wahrscheinlichkeitstheorie eine Verallgemeinerung darstellt, und uns dann einer fundierteren Einführung der sogenannten kausalen Netze zuwenden, die heute als die adäquate Form der Repräsentation und Verarbeitung probabilistischen Wissens angesehen werden [Nea90], insbesondere wenn dieses Wissen auch kausale Zusammenhänge beinhaltet.





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Christoph Quix, Thomas List, René Soiron
30. September 1996