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4.5 Vage Prädikate

Eine logische Sprache beschreibt Beziehungen unter den Objekten eines Universums, wie wir in Abschnitt 2.3 genauer ausgeführt haben. Die Grundbausteine solcher Beschreibungen sind atomare Aussagen der Form . So läßt sich etwa die natürliche Aussage ``in diesem Raum ist es warm'' in der Form Warm(raum) repräsentieren. Genauer gesagt, läßt sich für das syntaktische Gebilde Warm(raum) eine Interpretation angeben, so daß es den Sinn der natürlichen Aussage repräsentiert. Schließlich erinnern wir noch daran, daß wir in der Logik am Wahrheitsgehalt eines solchen Satzes interessiert sind.

Gehen wir also von dieser Interpretation aus und fragen wir uns nach dem resultierenden Wahrheitsgehalt der Aussage, dh. ist es in diesem Raum warm oder nicht. Eine natürliche Antwort könnte zB. sein ``es ist warm, aber nicht sehr warm''. Um sie zu geben, mag man kurz erwogen haben, daß man sich zwar nicht unangenehm fühlt, daß sich jedoch bei einer etwas höheren Temperatur ein wohligeres Wärmegefühl einstellen würde. Also hat man sich dazu entschlossen, die Frage zu bejahen, die Aussage somit als wahr einzustufen, sie aber mit einer zusätzlichen Aussage zu qualifizieren.

Stellen wir uns vor, nun beträte eine weitere Person den Raum und bemerkte ``huuh, ist es kalt bei Euch hier''. Diese Person hält die besagte Aussage demnach für eindeutig falsch und widerspricht damit der Wahrheitsbewertung der ersteren Person.

Wie wir alle aus täglicher Erfahrung wissen, handelt es sich bei dieser Art von Bewertungsdiskrepanz keineswegs um ein seltenes Phänomen. Vielmehr gibt es viele Eigenschaften und Objektrelationen, bei denen solche Diskrepanzen eher die Regel als die Ausnahme sind. Man denke etwa an Eigenschaften wie jung, brüchig, steif, dick, müde und an Beziehungen wie beliebt, angesehen, verliebt. Ja, dieses Phänomen ist so weit verbreitet, daß der Logiker und Philosoph Betrand Russel sogar schrieb [Rus23]:

All traditional logic habitually assumes that precise symbols are being employed. It is therefore not applicable to this terrestrial life but only to an imagined celestial existence.
Es handelt sich bei diesem Phänomen nicht um eines der in diesem Buch bisher beschriebenen Probleme. So fehlt es den beiden oben genannten Personen zB. nicht an Informationen, sondern sie können sich einfach nicht darüber verständigen, was als warm zu bezeichnen sei und was nicht. Mit anderen Worten, die Extension der Eigenschaft ``warm'' variiert von Person zu Person. Selbst die gleiche Person kann sich über Nacht erkälten und würde dann vielleicht am nächsten Tag den Raum mit exakt der gleichen Temperatur nicht mehr als warm empfinden. Schließlich gibt es selbst für eine einzige Person zu einem festen Zeitpunkt einen Temperaturbereich, in dem diese Person unschlüssig bzgl. ``warm'' oder ``nicht-warm'' ist. Wie ist dieses Phänomen bei der Repräsentation von Wissen zu berücksichtigen?

Genau gesagt, handelt es sich um zwei klar voneinander zu unterscheidende Phänomene. Das eine Phänomen, bei dem wir von der Extensionsdiskrepanz sprechen wollen, besteht in der Verschiedenheit der Extension von interpretierten Prädikaten bei verschiedenen Personen, wobei wir der Einfachheit halber die gleiche Person zu verschiedenen Zeiten auch unter den Begriff der ``verschiedenen Person'' subsumieren. Das andere Phänomen besteht in einer gewissen ``Weichheit'' oder Vagheit (der Extension) eines Prädikats selbst bei ein und derselben Person; so ist zB. die Grenze zwischen ``warm'' und ``nicht-warm'' nicht so scharf, daß sich der Wahrheitswert bei einer Temperaturänderung von einem Grad exakt umkehren würde. Dieses zweite Phänomen wollen wir mit dem Begriff der Extensionsunschärfe bezeichnen. Beschränken wir die Diskussion zunächst einmal auf das Problem der Extensionsdiskrepanz, und ignorieren wir in erster Näherung die Extensionsunschärfe für die nachstehende Diskussion.

Aus der Sicht einer einzelnen Person (oder eines Roboters) liegt dann kein wirkliches Problem vor. Zu einem gegebenen Zeitpunkt und in gegebener Verfassung wird die Person die obige Aussage eindeutig als wahr oder falsch einschätzen können (wenn man, wie wir es ja im Moment machen wollen, von der Vagheit absieht). Logik ist daher in dieser Näherung durchaus zur Beschreibung von Sachverhalten brauchbar, die unser Erdenleben betreffen, und Russel wußte dies sehr wohl. Wir müssen vielmehr Russel unter dem Gesichtspunkt der Extensionsdiskrepanz so verstehen, daß die Wahrheit von Aussagen nicht absolut sein muß, sondern personenbezogen sein kann, wie unser obiges Beispiel gut illustrierte. Logisch gesehen gibt es nicht nur ein Prädikat Warm, sondern ebensoviele Prädikate wie es Personen gibt, was hier mit dem angefügten Index Person gekennzeichnet ist.

Das Problem entsteht nunmehr dadurch, daß wir in der täglichen Kommunikation quasi durch Mittelung über alle Prädikate ein abstraktes Prädikat Warm zu extrahieren versuchen, was aber zu Diskrepanzen der beschriebenen Art führt, die auch ohne die Formalisierung in Logik entstehen. Das Problem ist also nicht eines der Logik, sondern liegt in der menschlichen Natur begründet. Ungeachtet dessen mag man sich die Frage stellen, ob mittels einer anderen Logik dieses Phänomen, gegebenenfalls gleich zusammen mit dem der Vagheit, geeigneter formalisierbar wäre. Diese Frage hat zur Entstehung der unscharfen Logik (engl. fuzzy logic) geführt, die wir nun kurz umreißen werden.

In dieser Logik wird Warm als ein unscharfes Prädikat aufgefaßt. Die Interpretation einer mit einem solchen unscharfen Prädikat gebildeten Aussage wie Warm(raum) wird dann nicht als wahr oder falsch, sondern als mehr oder weniger wahr aufgefaßt. In diesem ``mehr oder weniger'' überlagern sich unsere beiden genannten Phänomene. Erstens werden die Grenzen der Extension eines Prädikats abgerundet, wie es die zweite Kurve in der Abbildung 4.9 illustriert. Zusätzlich wird berücksichtigt, daß die Aussage umso wahrer ist, je mehr Personen den gegebenen Raum als tatsächlich warm einstufen würden, wodurch sich die dritte Kurve in der Abbildung 4.9 ergibt. Insbesondere haben wir also nicht nur zwei Wahrheitswerte wahr (bzw. 1) und falsch (bzw. 0), sondern ein Spektrum von Wahrheitswerten, zB. das gesamte Intervall [0;1]. Die unscharfe Logik läßt sich daher auch als eine mehrwertige Logik auffassen.


Abbildung 4.9: Die Vagheit des Prädikates ``Warm''

Zur Formalisierung dieser zugrundeliegenden Vorstellung wird der Begriff der linguistischen Variablen [Zad75] eingeführt. Die Bezeichnung verweist auf den Umstand, daß als Werte üblicherweise linguistische Ausdrücke und nicht etwa numerische Werte verwendet werden. Diese Unterscheidung ist vom formalen Standpunkt her allerdings von völlig untergeordneter Bedeutung. Nach [Zad75] ist nun eine linguistische Variable ein Tupel mit folgenden Eigenschaften.

ist der Name der Variablen. In unserem Beispiel hätten wir etwa den Namen Temperatur. bezeichnet die Termmenge zur Variablen . Im Beispiel könnte sie etwa aus den (linguistischen) Termen eiskalt, kalt, warm, heiß bestehen. Diese Termmenge wird mit einem Referenzuniversum (von Werten einer Basisvariablen ) in Bezug gesetzt. Im Beispiel wäre dies etwa der Temperaturbereich [-10;+40] (in ). definiert die Bedeutung der Terme in Bezug auf die Werte des Universums und damit die Wahrheitswerte von Grundaussagen. Im Beispiel ergäbe sich etwa

Dabei ist eine Funktion, die sogenannte Zugehörigkeitsfunktion, mit Werten in [0,1], die den Wahrheitswert bestimmt. Sie könnte in etwa die in Abbildung 4.10 gezeigte Gestalt haben. Danach wäre die Aussage Warm(raum) für einen Raum raum mit einer Temperatur von 20 wahr vom Grade 1 und bei einer Temperatur von 15 wahr vom Grade . Schließlich ist eine Bildungsvorschrift zur Beschreibung der Terme, etwa eine Grammatik. Im Beispiel würde sie lediglich aus den vier angegebenen Werten als Terminale der Grammatik bestehen. Für den logischen Kontext kommt keinerlei weitere Bedeutung zu.


Abbildung 4.10: Die Zugehörigkeitsfunktion zu ``warm''

Der entscheidende Unterschied dieses Ansatzes der unscharfen Logik zu dem der klassischen Logik läßt sich auch wie folgt formulieren. In der klassischen Logik besteht die Interpretation eines Prädikats aus einer Menge. Im Falle eines einstelligen Prädikates ist ein Objekt des Universums, über dem die Interpretation vorgenommen wird, entweder Element dieser Menge oder nicht. In der unscharfen Logik tritt an die Stelle dieser Menge eine sogenannte unscharfe Menge (engl. fuzzy set). Bildlich gesprochen handelt es sich hier um eine Menge mit unscharfen Rändern. Ein Objekt des Universums kann auch zu einem Grade in der Menge enthalten sein, der von 0 (nicht enthalten) und 1 (voll enthalten) verschieden ist, was durch die oben eingeführte Zugehörigkeitsfunktion dann als Zugehörigkeitswert (oder -Wert) zum Ausdruck kommt. Dementsprechend läßt sich die unscharfe Logik auch voll auf der Grundlage der mathematisch ausgefeilten Theorie der unscharfen Mengen entwickeln [Got92b, BG92].

Bislang haben wir lediglich atomare Grundaussagen in der unscharfen Logik diskutiert. Mittels der bekannten aussagenlogischen Operationen kommen wir von diesen zu komplexeren Aussagen. Deren Bedeutung läßt sich aufgrund des Zusammenhanges mit den unscharfen Mengen leicht verstehen. So entsprechen der Negation das Komplement, der Konjunktion der Durchschnitt und der Disjunktion die Vereinigung der zu den Teilaussagen gehörenden unscharfen Mengen. Diese Mengenoperationen sind in naheliegender Weise auch für unscharfe Mengen definiert, wobei im Falle des Durchschnitts das Minimum und im Falle der Vereinigung das Maximum der Zugehörigkeitswerte eines Elements bezüglich der unscharfen Mengen genommen werden, von denen man ausgeht.

Die soeben skizzierte Kombination von Zugehörigkeitsfunktionen ist weitgehend willkürlich, wie mit dem folgenden Beispiel illustriert werden soll. Nehmen wir an, die Temperatur unseres Raumes sei 18 , und es seien drei Personen, und , im Spiel. Zur Debatte stehe der Wahrheitsgehalt der Aussage . Wie oben erläutert, ist eine solche Ausage als Abstraktion von drei verschiedenen Ausagen zu betrachten, nämlich von . Nehmen wir nun weiter an, und hielten den Raum für warm, und und hielten ihn für hell, während ihn für kalt und für dunkel hält. Von den drei individuellen Aussagen ist also nur die für wahr. Als statistisches Mittel müßte daher der abstrahierte Satz einen -Wert von erhalten. Nach der vorher beschriebenen Konbination müßte sich dieser Wert als Minimun aus den -Werten der Literale ergeben. Aufgrund der gleichen Überlegungen erhalten sowohl Warm(raum) und Hell(raum) jeweils den -Wert von . Der Minimumwert von liegt als völlig falsch zum tatsächlichen Wert von . Eine Diskussion dieser grundsätzlichen Problematik verschieben wir noch für einen Moment.

Die aussagenlogischen Operationen sind eine von vier Gruppen von Operationen zur Bildung komplexerer Ausssagen, die in [Zad78] unterschieden werden:

  1. Modifikatoren
  2. Aussagenlogische Operationen
  3. Quantoren
  4. Qualifikatoren
Modifikatoren sind etwa

sehr, mehr-oder-weniger, annähernd, ....

Quantoren sind etwa

viele, die meisten, fast alle, nicht sehr viele, etwa 5, ...,

die unscharfe Anzahlaussagen ermöglichen. Qualifikatoren wie

wahr, absolut falsch, nicht sehr wahr, ziemlich falsch, ...

beschreiben die Wahrheit von Aussagen in unscharfer Weise.

All diesen Operatoren zur Bildung komplexerer Aussagen entsprechen für deren Interpretation Operatoren, die Zugehörigkeitsfunktionen verknüpfen. Die Bestimmung einer Zugehörigkeitsfunktion (wie etwa von ) läßt sich nach dem eingangs in diesem Abschnitt Gesagten eigentlich nur durch aufwendige statistische Erhebungen in befriedigender Weise erzielen. Das Gleiche gilt für derartige Operatoren auf Zugehörigkeitsfunktionen. Ersatzweise sind hierfür auch pauschale Vorschläge in der Literatur gemacht worden. So werden zB. für den Modifikator ``sehr'' in [Zad75] das Quadrat, also im Beispiel , und für den Modifikator ``mehr-oder-weniger'' die Quadratwurzel vorgeschlagen. Wie unbefriedigend derartige pauschale Festlegungen der Operatoren sind, wird schon aus dem Beispiel ersichtlich, denn dann ergäbe sich auch , was dem geläufigen Sprachgebrauch wohl sicher nicht entspricht.

Wie zu jeder Logik gehört neben deren Sprache samt ihrer Interpretation auch zur unscharfen Logik eine Menge von logischen Schlußregeln, wie etwa dem modus ponens. Semantisch werden im Fall der unscharfen Logik mittels solcher Schlußregeln die Zugehörigkeitsfunktionen von Prämissen zu einer Zugehörigkeitsfunktion der Konklusion in geeigneter Weise kombiniert. Die schon bei den logischen Operationen illustrierte Problematik trifft hier in gleicher, wenn nicht sogar verstärkter Weise zu. Wir wollen daher auf diese Kombination hier nicht näher eingehen (siehe zB. Abschnitt 4.4 in [BG92]), sondern vielmehr die Natur dieser Problematik kurz erläutern und bewerten.

Der Kern der Problematik liegt darin, daß in dem Gebiet der unscharfen Logik die beiden eingangs beschriebenen Phänomene, nämlich das der Extensionsdiskrepanz und das der Extensionsunschärfe, nicht klar voneinander unterschieden werden. Sie erfordern nämlich eine völlig unterschiedliche Behandlung. Für die Unschärfe oder Vagheit ist der Zugang über unscharfe Mengen bestens geeignet und liefert auch im praktischen Einsatz hervorragende Ergebnisse. Hier werden an die Stelle von präzisen (zB. numerischen) Werten vage Intervalle solcher Werte gesetzt, die sich an den Rändern überlappen. Da jedes Intervall viele Werte umfaßt, vereinfacht sich die Beschreibung einer Problemstellung erheblich. Andererseits wird sie aber auch wesentlich ungenauer. Oft reicht aber der dabei immer noch erzielte Grad der Genauigkeit voll aus, um brauchbare Ergebnisse zu erzielen.

Eine der Anwendungen dieser Technik der unscharfen Beschreibung ist in der Regelungstechnik gegeben. Hier werden Steuerungen aufgrund von Daten vorgenommen, die von Sensoren ermittelt sind. Diese Daten sind oft selbst mit großen Ungenauigkeiten behaftet, weil die eingesetzten Sensoren nur einen beschränkten Genauigkeitsgrad erreichen können. Es macht daher gar keinen Sinn, die gemessenen Daten in absoluter Präzision in die Berechnung einzubringen, vielmehr ist ihre Codierung in Form eines unscharfen (linguistischen) Wertes die der Meßfehlergenauigkeit ideal angepaßte Technik. Hier liegt der hervorragende Beitrag, der durch die Arbeiten zur unscharfen Logik geleistet worden ist. Der interessierte Leser möge sich unter diesem Aspekt mit der einschlägigen Literatur vertraut machen [Got92b, BG92, Zim85, Som92, DP88]. Dort findet er auch umfangreiche Literaturhinweise und kurze Abrisse zur Geschichte der unscharfen Logik.

Die Extensionsdiskrepanz hat eine völlig andere Ursache, wie wir in diesem Abschnitt zu erklären versuchten. Ihr muß mit probabilistischen Mitteln zu Leibe gerückt werden. Insbesondere muß sie völlig unabhängig von der Extensionsunschärfe behandelt werden. Soweit aufgrund der (beschränkten) Kenntnis der Literatur auf diesem Gebiet der unscharfen Logik zu erkennen ist, hat dieses Gebiet diesen fundamentalen Unterschied offenbar bis heute nicht wirklich erkannt (wenn auch etwa in [DP88] auf die Notwendigkeit der Überlagerung von unscharfer Logik und Wahrscheinlichkeitstheorie hingewiesen wird). Hier gibt es also noch einen erheblichen Forschungsbedarf.



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Christoph Quix, Thomas List, René Soiron
30. September 1996