Der Ansatz, den wir in diesem Abschnitt vorstellen und der in [Poo88] von Poole erstmalig ausgearbeitet, aber schon in [Bib87b] angeregt wurde, ist mit den vorangegangenen Ansätzen insofern eng verwandt, als auch hier die Ursache für die Schwierigkeiten in der Weltbeschreibung und nicht in der Logik angenommen wird. Die vorgeschlagene Lösung unterscheidet sich aber darin von den bisherigen, daß hier die gegebene Weltbeschreibung nicht notwendigerweise als konsistent vorausgesetzt wird. Dies hängt damit zusammen, daß Faustregeln (oder Ermangelungsregeln), die durch das Wort ``normalerweise'' in ihrer natürlichsprachlichen Form charakterisiert sind, hier ohne die Technik eines zusätzlichen Abnormalitätsprädikats in die Logik übersetzt werden, so daß das ``normalerweise'' in der Regel selbst überhaupt nicht direkt zum Ausdruck gebracht wird. Vielmehr wird zur Vermeidung von Inkonsistenzen die Menge dieser Ermangelungsregeln anders als der restliche Teil der Weltbeschreibung im Inferenzprozess behandelt. Um dies genauer erläutern zu können, führen wir zunächst die folgenden Begriffe ein.
SeiBetrachten wir wieder einmal unser Eiscreme-Beispiel 3.2 zusammen mit der Zahnschmerzenregel, also insgesamt die folgende Formel.eine konsistente Menge (bzw. eine Konjunktion) von geschlossenen Formeln, genannt Fakten,
eine Menge von Formeln, genannt mögliche Hypothesen oder (Standard-) Annahmen, und
eine Menge geschlossener Formeln, genannt Einschränkungen. Ein Szenario von
und
ist eine Menge
, wobei
eine Menge von Grundinstanzen von Elementen aus
so ist, daß
(bzw.
) konsistent ist. Die Menge aller Grundinstanzen von
über dem vorgegebenen Alphabet bezeichnen wir mit
.
Eine Erklärung für eine abgeschlossene Formel
aufgrund von
und
ist ein Szenario
von
und
, das
impliziert, dh.
.
Ein Szenario
von
heißt maximal, wenn für alle
mit
(und
) die Menge
inkonsistent ist.
Ist
ein maximales Szenario von
und
, so heißt die Menge
aller daraus implizierten Formeln, dh.
, eine Extension von
und
.
Das Literal darin bildet die Menge
der unumstößlichen Fakten.
Die beiden Regeln bilden die Menge der möglichen Hypothesen
. Die
Menge der Einschränkungen ist hier leer. Das Beispiel illustriert auch
unsere in der Notation zum Ausdruck kommende Ambivalenz zwischen Konjunktionen
und Mengen von Formeln, was logisch keinen Unterschied macht.
Liebt Larissa Eiscreme? Da das Szenario konsistent ist und
impliziert, ist die Antwort `ja'. Weiß man nun zusätzlich noch, daß
Larissa Zahnschmerzen hat, dh.
, dann kann dieses Szenario nicht
durch dieses Faktum erweitert werden, weil das Ergebnis inkonsistent wäre.
Vielmehr ergeben sich zwei verschiedene konsistente Szenarios
und
, die zwei unterschiedliche Antworten
erklären. Das Beispiel illustriert die zugrundeliegende Idee, wonach die
gegebene Weltbeschreibung nicht wörtlich genommen, sondern als eine Menge
verschiedener möglicher Weltbeschreibungen aufgefaßt wird, die erst aus
der gegebenen Beschreibung in einer Art Theoriebildungsprozeß extrahiert
werden müssen. In diesem Sinne ist das hier beschriebene Vorgehen auch eng
mit dem in Abschnitt 4.3.1 beschriebenen abduktiven
Schließen
verwandt.
Das in diesem Beispiel resultierende Ergebnis ist nicht anders als bei der Zirkumskription, wo erst mit einer Priorität unter den Abnormalitätsprädikaten eine befriedigendere Lösung erreicht wird. Eine Priorität dieser Art wird hier im Falle der Abwesenheit von Einschränkungen in der folgenden Weise erreicht.
Für jede Hypothese führen wir die Möglichkeit ein, sie mit einem Namen
zu benennen. Sei etwa eine solche Hypothese, deren freie Variable
sind; dann führen wir zB. das
-stellige
Prädikatszeichen
ein (von dem natürlich angenommen wird, daß
es sonst bisher nicht aufgetreten ist) und verwenden
als Name für die Hypothese. Statt
schreiben wir wie
bisher auch kurz
, indem wir
als Abkürzung für
auffassen. Unser System
(also ohne
Einschränkungen) läßt sich damit alternativ wie folgt formulieren.
Daß dies wirklich nur ein Spiel mit Namen ist und keine für unsere Zwecke relevante Veränderung mit sich bringt, zeigt der folgende Satz [Poo88].
Sind alle inDer Verzicht auf die Berücksichtigung von Einschränkungen ist notwendig. Der Satz gilt nämlich nicht mehr, wennverwendeten Prädikatszeichen in
nicht aufgetreten, so ist
in
genau dann erklärbar, wenn
in
erklärbar ist.
nur ein einziges Szenario zu,
wohingegen das nach dem eben beschriebenen Verfahren benamte Pendant
zwei Szenarios besitzt, nämlich
und
In unserem Eiscreme-Beispiel, das keine Einschränkungen enthält, könnte
man etwa für die beiden Hypothesen die neuen Namen K_Lx und
S_nLx einführen. Sind diese in dem aufgrund des Satzes 3.6
äquivalenten System verfügbar, dann lassen sich (unter Änderung des
Systemverhaltens) nun auch Prioritäten leicht formulieren. So ist es sehr
natürlich festzulegen, daß beim Vorliegen von Zahnschmerzen die erstere
Hypothese außer Kraft zu setzen sei, dh. formal . Die Priorität dieser Regel gegenüber den anderen beiden wird
jedoch erst dann in der gewünschten Weise wirksam, wenn sie nicht als
Hypothese, sondern als Einschränkung eingesetzt wird. Bei der
Konsistenzprüfung wird sie dann ja in jedem Fall herangezogen (was als
Hypothese nicht der Fall wäre, weshalb sich schon in unserem einfachen Beispiel
dann der gewünschte Effekt nicht einstellen würde). Es ist leicht zu
sehen, daß die Hinzunahme dieser zusätzlichen Regel als Einschränkung
für unser Beispiel genau die erwarteten Resultate liefert. Insbesondere ist
erklärbar, wenn
zu den Fakten gehört,
während
nicht erklärbar ist.
Neben der Erklärung von Sachverhalten geht es uns hier auch um das Vorhersagen oder Prognostizieren möglichen künftigen Verhaltens [Poo87a]. Während in der klassischen Form der Logik beides in gleicher Weise durch den Ableitbarkeitsoperator behandelt wird, ergibt sich hier eine gesonderte Definition.
Eine (geschlossene) FormelDa es in dem eben beschriebenen Beispiel nur eine einzige konsistente Extension gibt, istheißt prognostizierbar in
, wenn
in allen Extensionen von
enthalten ist.
Nach dieser Einführung der wichtigsten Definitionen zu dem in diesem Abschnitt behandelten Ansatz zum nichtmonotonen Schließen werden wir nun einige der wichtigsten Eigenschaften dieser Begriffe in diesem Unterabschnitt zusammentragen. So ergibt sich aus dem bekannten Kompaktheitssatz der Prädikatenlogik unmittelbar die folgende Aussage.
Jede inEs ist offensichtlich, daß der hier eingeführte Formalismus (ebenso wie die früher besprochenen) nichtmonoton ist. Innerhalb ein und derselben Extension jedoch handelt es sich um ein rein klassisches Schließen, so daß unter anderem auch die Monotonie gegeben ist, was wir wie folgt festhalten.erklärbare Formel
ist in einem endlichen Szenario von
erklärbar.
Gilt (mit den Notationen wie bisher)Die Begriffe `Erklärbarkeit' und `Extension' stehen in der folgenden engen Beziehung [Poo88].,
und ist
konsistent, so gilt auch
.
Zur Erklärung einer gegebenen Formelist erklärbar in
genau dann, wenn
in einer Extension von
liegt.
Soll dagegen prognostiziert werden, so ist die Aufgabenstellung
wesentlich komplizierter, da ja nun alle Szenarien ins Spiel kommen.
Ein Verfahren hierfür ergibt sich aus den folgenden beiden Lemmata und dem
aus ihnen folgenden
anschließenden Satz, die auf [Poo87b] zurückgehen, in der
vorliegenden, korrigierten
Fassung jedoch aus [Thi93] entnommen sind.
Wenn (zuwie bisher) die Negation
einer Grundinstanz
nicht in der Extension eines maximalen Szenarios
von
liegt, dann ist
bereits Element dieses Szenarios, also
.
Zuwie bisher ist eine abgeschlossene Formel
genau dann in jeder Erweiterung von
, wenn es in jedem Szenario von
eine Erklärung für
gibt.
ZuAuf der Grundlage der in diesem Abschnitt besprochenen Theorie ist ein auf Logikprogrammierung basierendes System THEORIST entwickelt worden [Poo88].wie bisher ist eine abgeschlossene Formel
genau dann in jeder Erweiterung von
, wenn für jede Erklärung
für
aufgrund von
gilt: Gibt es für die Negation
eines Elementes
eine Erklärung
aufgrund von
, dann ist
in jeder Erweiterung von
.
Christoph Quix, Thomas List, René Soiron