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3.6 Ermangelungsschließen durch Theoriebildung

In Abschnitt 3.1 haben wir die klassische Beziehung erläutert und auf die Schwierigkeiten zur Modellierung von Phänomenen menschlichen Schließens hingewiesen. Bisher haben wir drei verschiedene Ansätze zur Überwindung dieser Schwierigkeiten vorgestellt. Sie alle gehen von der Vorstellung aus, daß unsere Weltbeschreibung in der Regel mangelhaft ist. In Ermangelung besseren Wissens wenden sie in pauschaler Weise Vervollständigungsmechanismen an, die sich in allen drei Fällen an dem Ziel minimaler Modelle für die gegebene Weltbeschreibung orientieren.

Der Ansatz, den wir in diesem Abschnitt vorstellen und der in [Poo88] von Poole erstmalig ausgearbeitet, aber schon in [Bib87b] angeregt wurde, ist mit den vorangegangenen Ansätzen insofern eng verwandt, als auch hier die Ursache für die Schwierigkeiten in der Weltbeschreibung und nicht in der Logik angenommen wird. Die vorgeschlagene Lösung unterscheidet sich aber darin von den bisherigen, daß hier die gegebene Weltbeschreibung nicht notwendigerweise als konsistent vorausgesetzt wird. Dies hängt damit zusammen, daß Faustregeln (oder Ermangelungsregeln), die durch das Wort ``normalerweise'' in ihrer natürlichsprachlichen Form charakterisiert sind, hier ohne die Technik eines zusätzlichen Abnormalitätsprädikats in die Logik übersetzt werden, so daß das ``normalerweise'' in der Regel selbst überhaupt nicht direkt zum Ausdruck gebracht wird. Vielmehr wird zur Vermeidung von Inkonsistenzen die Menge dieser Ermangelungsregeln anders als der restliche Teil der Weltbeschreibung im Inferenzprozess behandelt. Um dies genauer erläutern zu können, führen wir zunächst die folgenden Begriffe ein.

Sei eine konsistente Menge (bzw. eine Konjunktion) von geschlossenen Formeln, genannt Fakten, eine Menge von Formeln, genannt mögliche Hypothesen oder (Standard-) Annahmen, und eine Menge geschlossener Formeln, genannt Einschränkungen. Ein Szenario von und ist eine Menge , wobei eine Menge von Grundinstanzen von Elementen aus so ist, daß (bzw. ) konsistent ist. Die Menge aller Grundinstanzen von über dem vorgegebenen Alphabet bezeichnen wir mit .

Eine Erklärung für eine abgeschlossene Formel aufgrund von und ist ein Szenario von und , das impliziert, dh. .

Ein Szenario von heißt maximal, wenn für alle mit (und ) die Menge inkonsistent ist.

Ist ein maximales Szenario von und , so heißt die Menge aller daraus implizierten Formeln, dh. , eine Extension von und .

Betrachten wir wieder einmal unser Eiscreme-Beispiel 3.2 zusammen mit der Zahnschmerzenregel, also insgesamt die folgende Formel.

Das Literal darin bildet die Menge der unumstößlichen Fakten. Die beiden Regeln bilden die Menge der möglichen Hypothesen . Die Menge der Einschränkungen ist hier leer. Das Beispiel illustriert auch unsere in der Notation zum Ausdruck kommende Ambivalenz zwischen Konjunktionen und Mengen von Formeln, was logisch keinen Unterschied macht.

Liebt Larissa Eiscreme? Da das Szenario konsistent ist und impliziert, ist die Antwort `ja'. Weiß man nun zusätzlich noch, daß Larissa Zahnschmerzen hat, dh. , dann kann dieses Szenario nicht durch dieses Faktum erweitert werden, weil das Ergebnis inkonsistent wäre. Vielmehr ergeben sich zwei verschiedene konsistente Szenarios und , die zwei unterschiedliche Antworten erklären. Das Beispiel illustriert die zugrundeliegende Idee, wonach die gegebene Weltbeschreibung nicht wörtlich genommen, sondern als eine Menge verschiedener möglicher Weltbeschreibungen aufgefaßt wird, die erst aus der gegebenen Beschreibung in einer Art Theoriebildungsprozeß extrahiert werden müssen. In diesem Sinne ist das hier beschriebene Vorgehen auch eng mit dem in Abschnitt 4.3.1 beschriebenen abduktiven Schließen verwandt.

Das in diesem Beispiel resultierende Ergebnis ist nicht anders als bei der Zirkumskription, wo erst mit einer Priorität unter den Abnormalitätsprädikaten eine befriedigendere Lösung erreicht wird. Eine Priorität dieser Art wird hier im Falle der Abwesenheit von Einschränkungen in der folgenden Weise erreicht.

Für jede Hypothese führen wir die Möglichkeit ein, sie mit einem Namen zu benennen. Sei etwa eine solche Hypothese, deren freie Variable sind; dann führen wir zB. das -stellige Prädikatszeichen ein (von dem natürlich angenommen wird, daß es sonst bisher nicht aufgetreten ist) und verwenden als Name für die Hypothese. Statt schreiben wir wie bisher auch kurz , indem wir als Abkürzung für auffassen. Unser System (also ohne Einschränkungen) läßt sich damit alternativ wie folgt formulieren.

Daß dies wirklich nur ein Spiel mit Namen ist und keine für unsere Zwecke relevante Veränderung mit sich bringt, zeigt der folgende Satz [Poo88].

Sind alle in verwendeten Prädikatszeichen in nicht aufgetreten, so ist in genau dann erklärbar, wenn in erklärbar ist.
Der Verzicht auf die Berücksichtigung von Einschränkungen ist notwendig. Der Satz gilt nämlich nicht mehr, wenn gilt und durch Einsetzen von Namen für Hypothesen aus hervorgeht, also die beiden insbesondere nicht identisch sind. Wie in [DJS92] näher erläutert, läßt beispielsweise das Tripel

nur ein einziges Szenario zu, wohingegen das nach dem eben beschriebenen Verfahren benamte Pendant

zwei Szenarios besitzt, nämlich und

In unserem Eiscreme-Beispiel, das keine Einschränkungen enthält, könnte man etwa für die beiden Hypothesen die neuen Namen K_Lx und S_nLx einführen. Sind diese in dem aufgrund des Satzes 3.6 äquivalenten System verfügbar, dann lassen sich (unter Änderung des Systemverhaltens) nun auch Prioritäten leicht formulieren. So ist es sehr natürlich festzulegen, daß beim Vorliegen von Zahnschmerzen die erstere Hypothese außer Kraft zu setzen sei, dh. formal . Die Priorität dieser Regel gegenüber den anderen beiden wird jedoch erst dann in der gewünschten Weise wirksam, wenn sie nicht als Hypothese, sondern als Einschränkung eingesetzt wird. Bei der Konsistenzprüfung wird sie dann ja in jedem Fall herangezogen (was als Hypothese nicht der Fall wäre, weshalb sich schon in unserem einfachen Beispiel dann der gewünschte Effekt nicht einstellen würde). Es ist leicht zu sehen, daß die Hinzunahme dieser zusätzlichen Regel als Einschränkung für unser Beispiel genau die erwarteten Resultate liefert. Insbesondere ist erklärbar, wenn zu den Fakten gehört, während nicht erklärbar ist.

Neben der Erklärung von Sachverhalten geht es uns hier auch um das Vorhersagen oder Prognostizieren möglichen künftigen Verhaltens [Poo87a]. Während in der klassischen Form der Logik beides in gleicher Weise durch den Ableitbarkeitsoperator behandelt wird, ergibt sich hier eine gesonderte Definition.

Eine (geschlossene) Formel heißt prognostizierbar in , wenn in allen Extensionen von enthalten ist.
Da es in dem eben beschriebenen Beispiel nur eine einzige konsistente Extension gibt, ist nicht nur erklärbar, sondern auch prognostizierbar.

Nach dieser Einführung der wichtigsten Definitionen zu dem in diesem Abschnitt behandelten Ansatz zum nichtmonotonen Schließen werden wir nun einige der wichtigsten Eigenschaften dieser Begriffe in diesem Unterabschnitt zusammentragen. So ergibt sich aus dem bekannten Kompaktheitssatz der Prädikatenlogik unmittelbar die folgende Aussage.

Jede in erklärbare Formel ist in einem endlichen Szenario von erklärbar.
Es ist offensichtlich, daß der hier eingeführte Formalismus (ebenso wie die früher besprochenen) nichtmonoton ist. Innerhalb ein und derselben Extension jedoch handelt es sich um ein rein klassisches Schließen, so daß unter anderem auch die Monotonie gegeben ist, was wir wie folgt festhalten.

Gilt (mit den Notationen wie bisher) , und ist konsistent, so gilt auch .
Die Begriffe `Erklärbarkeit' und `Extension' stehen in der folgenden engen Beziehung [Poo88].

ist erklärbar in genau dann, wenn in einer Extension von liegt.
Zur Erklärung einer gegebenen Formel ist jedoch nicht die Bildung der vollständigen Extension erforderlich. Vielmehr geht man hierzu von aus und sucht nach einem Beweis mittels eines der bekannten Verfahren für die klassische Logik [Bib92], wobei von als Axiome ausgegangen wird. Immer wenn hierbei ein neues Element aus herangezogen wird, wird die erforderliche Konsistenzprüfung unter Einbeziehung der Einschränkungen ausgeführt. Im Fall, daß diese Prüfung ein negatives Resultat ergibt, muß die Suche nach dem Beweis an dieser Stelle abgebrochen und müssen frühere Alternativen zur Fortsetzung herangezogen werden. Ein erfolgreich gefundener Beweis, bei dem diese Konsistenzprüfungen immer positiv verlaufen sind, liefert dann eine Erklärung, denn die dabei verwendeten Fakten und instantiierten Hypothesen bilden das gesuchte Szenario.

Soll dagegen prognostiziert werden, so ist die Aufgabenstellung wesentlich komplizierter, da ja nun alle Szenarien ins Spiel kommen. Ein Verfahren hierfür ergibt sich aus den folgenden beiden Lemmata und dem aus ihnen folgenden anschließenden Satz, die auf [Poo87b] zurückgehen, in der vorliegenden, korrigierten Fassung jedoch aus [Thi93] entnommen sind.

Wenn (zu wie bisher) die Negation einer Grundinstanz nicht in der Extension eines maximalen Szenarios von liegt, dann ist bereits Element dieses Szenarios, also .

Zu wie bisher ist eine abgeschlossene Formel genau dann in jeder Erweiterung von , wenn es in jedem Szenario von eine Erklärung für gibt.

Zu wie bisher ist eine abgeschlossene Formel genau dann in jeder Erweiterung von , wenn für jede Erklärung für aufgrund von gilt: Gibt es für die Negation eines Elementes eine Erklärung aufgrund von , dann ist in jeder Erweiterung von .
Auf der Grundlage der in diesem Abschnitt besprochenen Theorie ist ein auf Logikprogrammierung basierendes System THEORIST entwickelt worden [Poo88].



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Christoph Quix, Thomas List, René Soiron
30. September 1996