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3.1 Inferenz und Nichtmonotonie

Es gehört sicher zu den entscheidendsten Merkmalen menschlicher Intelligenz, daß wir die Fähigkeit haben, aus Wissen Schlußfolgerungen zu ziehen, die zu neuem Wissen führen, das uns vorher nicht bekannt war. So wissen wir zum Beispiel, daß Vögel fliegen können und daß Spatzen Vögel sind. Wenn wir nun einen Spatz auf der Straße sehen, schließen wir aus dem genannten Wissen über Vögel und Spatzen auch dann auf seine Flugfähigkeit, wenn wir ihn vorher nie haben fliegen sehen. Inferenz ermöglicht in diesem Sinne eine Erweiterung unseres Wissens über die Welt.

Wissen ist unabdingbar für Intelligenz. Es ist aber insbesondere das Merkmal der Inferenz, das intelligente Systeme zu charakterisieren scheint. Vielleicht wäre eine speziellere Form der in Abschnitt 1.3 genannten Wissensrepräsentationshypothese die folgende Hypothese, die Inferenz explizit mit aufnimmt. Dabei sei der Leser allerdings darauf hingewiesen, daß ihm diese Formulierung nur im Kontext des Abschnitt 1.3 verständlich sein kann.

Jedes sich auf mechanische Weise intelligent verhaltende Gebilde besteht aus strukturellen Teilen,
a) die durch einen wohldefinierten Interpretationsmechanismus für uns externe Beobachter als Wissen identifizierbar sind;
b) das Gebilde kann Folgerungen aus diesem Wissen nachvollziehen und verfügt über ein in diesem Sinne erweitertes Wissen, das in gleicher Weise für uns zugänglich ist;
c) das gesamte Wissen spielt eine zwar formale, aber kausale und essentielle Rolle bei der Erzeugung des Systemverhaltens.

Diese unter (b) zusätzlich genannte Fähigkeit zum Schließen wird vom Menschen in verschiedenster Weise eingesetzt, etwa zur Erklärung von Beobachtungen, aber auch zur Voraussage von künftigen Ereignissen oder Sachverhalten bzw. solchen, die zwar nicht in der Zukunft liegen, uns aber dennoch nicht bekannt sind. So können wir im obigen Beispiel voraussagen, daß der Spatz wegfliegt, bevor er unter die Räder des herannahenden Wagens kommt. Umgekehrt, wenn wir den Spatzen dann tatsächlich wegfliegen sehen, können wir dieses Verhalten mit dem vorhandenen Wissen erklären.

Dies läßt sich formal wie folgt präzisieren. Bezeichnen wir das gegebene Wissen etwa mit (im Beispiel das Wissen über Vögel und Spatzen) und die Beobachtungen bzw. das schlußgefolgerte Wissen mit , so gibt es eine Beziehung , die uns Menschen offenbar eigen und teilweise als Wissen zugänglich ist und die mit in der Weise

verknüpft. Ist gegeben, so ermöglicht die Prognose von . Ist gegeben, so dient zur Erklärung von . Sind und gegeben, so dient zum Test, ob sie in einer derartigen logischen Beziehung miteinander stehen.

Die Relation ist experimentell beobachtbar, und es besteht die Aufgabe, aus solchen einzelnen Beobachtungen eine allgemeine Charakterisierung dieser Relation zu abstrahieren. Ist dies gelungen, stellt sich die anschließende Aufgabe, algorithmische Verfahren anzugeben, die bei gegebenem Wissen die Richtigkeit von Schlüssen testen bzw. Prognosen und Erklärungen inferieren. Mit anderen Worten, eines dieser Verfahren soll zu gegebenem und testen, ob gilt; ein anderes soll zu solche bzw. zu solche ableiten, daß gilt; auch Mischformen zwischen diesen Alternativen sind zu behandeln. Die semantische Beziehung wird in einer syntaktischen Realisierung mittels eines solchen Verfahrens dann mit bezeichnet.

Die Tarskische Semantik der Prädikatenlogik erster Stufe [Tar36] stellt eine solche Relation zur Diskussion.gif Jeder Kalkül der klassischen Prädikatenlogik erster Stufe (wie etwa eine der Ausprägungen der Konnektionsmethode [Bib87a]) liefert hierzu das syntaktische Äquivalent (dh. ein Äquivalent im Sinne der Vollständigkeit und Korrektheit). Die Menge aller in diesem Tarskischen (oder klassischem) Sinne aus folgerbaren Aussagen bezeichnet man als die Theorie , bzw. genauer . Formal,

Es wird nun aber von vielen angezweifelt, ob diese klassische Semantik tatsächlich die natürliche Beziehung adäquat repräsentiert. Insbesondere scheint die Monotonie der klassischen Folgerungsbeziehung der beobachteten Beziehung zu widersprechen. Gilt nämlich unter dieser klassischen Folgerungsbeziehung die Folgerung und fügt man zu noch weiteres Wissen hinzu, so gilt in jedem Fall noch , was wir in Abschnitt 2.6 als die Monotonieeigenschaft von bezeichnet haben. Vermehrt man also das Wissen auf der linken Seite der Beziehung, so kann sich das auf der rechten nicht verringern, sondern nur vermehren oder gleichbleiben; es verhält sich also monoton im üblichen Sinne.

Natürliches Schließen scheint dagegen nicht monoton zu sein. Wenn wir zum Beispiel bei unserem Spatzen einen gebrochenen Flügel entdeckten, so würden wir die vorangegangene Prognose der Flugfähigkeit zurücknehmen oder zumindest in Zweifel ziehen. Zusätzliches Wissen kann also eine vorherige Beziehung annullieren, womit sich das natürliche Schließen in diesem Sinne als nichtmonoton zu erweisen scheint. Dieses Phänomen der Nichtmonotonie wird uns im vorliegenden Kapitel wesentlich beschäftigen, und zwar besonders im Zusammenhang mit der Vorstellung, daß eine gegebene Weltbeschreibung zwar unvollständig ist, daß aber Normalität herrscht, weshalb eine Form von standardmäßiger Vervollständigung der Beschreibung möglich ist.

Wir wollen aber gleich hier vor voreiligen Schlüssen warnen. Ein solch voreiliger Schluß läge zum Beispiel darin, mit der eben beschriebenen Beobachtung die klassische Inferenzbeziehung als untauglich abzutun, wie es unkritisch von vielen (wenn nicht fast allen) über Jahre hin geschehen ist. Vielmehr ist dies nur eine unter vielen möglichen Überlegungen. Eine andere besteht in einer kritischen Hinterfragung, was beim natürlichen Schließen (und ) in Wirklichkeit ist, und gegebenenfalls so eine Erklärung für die Nichtmonotonie ohne Aufgabe der klassischen Inferenzbeziehung zu erreichen. Eine dritte Möglichkeit besteht in der Einführung eines neuen logischen Implikationsoperators. Wer weiß, ob es über diese drei genannten nicht noch weitere Denkansätze gibt? Für alle drei Ansätze werden wir im vorliegenden Kapitel eine Reihe von Lösungsansätzen kennenlernen, die dann in Abschnitt 3.11 noch einmal im Überblick dargestellt sind.

Eine abschließende Bemerkung sei zur Sprechweise angefügt. Es gibt im Deutschen ja eine Reihe von Bezeichnungen für das Schließen. Es macht daher Sinn, diese nicht synonym, sondern spezifischer auszunutzen. Wir werden daher ``Schließen'' oder ``Schlußfolgern'' immer im Zusammenhang mit der von der Natur im Menschen realisierten Beziehung verwenden und mit ``Inferenz'' besonders die vom Menschen erdachten mechanischen Formen dieser Beziehung bezeichnen. Bei Vorlage eines formalen Kalküls wandelt sich die ``Inferenz'' in unserem Sprachgebrauch dann in ``Deduktion''.



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Christoph Quix, Thomas List, René Soiron
30. September 1996