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3.7.2 Die Semantik der Ermangelungslogik

Der Ableitbarkeitsbegriff in der Ermangelungslogik weicht so stark von dem der klassischen Logik ab, daß die ``Bedeutung'' der Ableitbarkeit einer Formel keineswegs mehr offensichtlich ist. Die Frage nach der Semantik der Ermangelungslogik ist daher alles andere als trivial und hat mehr als ein Jahrzehnt eine Reihe von Forschern intensiv beschäftigt. In diesem Unterabschnitt wollen wir daher eine solche Semantik angeben.

Beginnen wir zunächst damit, an die Semantik der Prädikatenlogik (siehe Abschnitt 2.3) zu erinnern [Bib87a, Sho67]. Sie gründet sich auf den Begriff der Interpretation. Mittels einer Interpretation wird jeder Formel über dem betrachteten Alphabet ein Wahrheitswert zugeordnet. Betrachten wir zB. die Menge der Fakten einer Ermangelungstheorie, so erhält jedes dieser Fakten in einer solchen Interpretation den Wert wahr oder falsch. Wenn unter einer gegebenen Interpretation alle Fakten den Wert wahr erhalten, dann nennt man diese Interpretation ein Modell der Faktenmenge. Hat man ein solches Modell der Faktenmenge, so ist auch jede aus klassisch ableitbare Formel in dieser Interpretation wahr; die Interpretation ist also auch ein Modell der abgeleiteten Formel. Jedes Modell der Faktenmenge ist daher ebenso ein Modell aller aus ihr klassisch ableitbaren Formeln.

Genau diese zuletzt genannte Eigenschaft geht in der Ermangelungslogik verloren. Denken wir wieder an unser Standardbeispiel, und nehmen wir also an, daß die Menge der Fakten nur aus besteht und

als einzige Regel gegeben ist. Durch Anwendung der Ermangelungsregel können wir auf die Formel schließen. Die Modelle unserer Faktenmenge sind dadurch charakterisiert, daß sie alle die Formel erfüllen, dh. wahr machen. Unter ihnen sind daher auch solche, die die abgeleitete Formel falsch machen, dh. diese Modelle sind, anders als in der klassischen Logik, keine Modelle dieser abgeleiteten Formel. Durch die Anwendung der Ermangelungsregel wird die Menge der Modelle der Faktenmenge offensichtlich eingeschränkt, dh. es werden weniger Modelle, als ohne die Anwendung der Regel vorhanden sind.

In einer ersten Näherung kann man also sagen, daß die in einer Ermangelungstheorie ableitbaren Formeln semantisch durch eine Teilmenge der Modellmenge zur Faktenmenge bestimmt ist. Unser Ziel ist es, die Teilmenge so zu bestimmen, daß jedes Modell dieser Teilmenge auch ein Modell einer Extension der Ermangelungstheorie in dem Sinne ist, daß alle Formeln der Extension unter der zugrundeliegenden Interpretation wahr sind. Wir haben bereits im vorangegangenen Unterabschnitt gesehen, daß es mehrere Extensionen geben kann. Es kann daher auch sein, daß eine solche Teilmenge nicht eindeutig bestimmt ist; vielmehr kann es also auch mehr als eine derartige Teilmenge geben, und zwar zu jeder Extension genau eine.

Damit stehen wir nun vor der entscheidenden Frage, wie nämlich diese Teilmengen semantisch charakterisierbar sind. Die Antwort auf diese Frage fußt auf zwei entscheidenden Ideen. Die eine Idee beruht auf der Einführung einer Präferenzrelation auf Modellmengen, die durch die Ermangelungsregeln bestimmt ist. Auf sie werden wir weiter unten zu sprechen kommen. Die andere Idee fußt auf der Betrachtung von Kripke-Modellen anstelle von prädikatenlogischen Modellen. Diese Idee wurde zuerst in [BS92] realisiert und soll uns nun beschäftigen.

Hierzu erinnern wir zunächst an den in Abschnitt 2.11.7 eingeführten Begriff eines Kripke-Modells. Es besteht aus einer Menge möglicher Welten, unter denen eine aktuelle Welt ausgezeichnet ist. Zu jeder dieser Welten gibt es eine (prädikatenlogische) Interpretation, so daß wir vom Wahrheitswert einer Formel in einer Welt sprechen können. Schließlich ist die Menge der Welten durch eine Erreichbarkeitsrelation strukturiert, so daß man von einer Welt eine andere erreichen bzw. nicht erreichen kann. Eine Formel der Gestalt ist dann in der aktuellen Welt wahr, wenn in allen von ihr aus erreichbaren Welten wahr ist, während dann wahr ist, wenn es eine erreichbare Welt gibt, in der wahr ist; selbst ist wahr, wenn in der aktuellen Welt wahr ist.

Zum Verständnis der Idee der Verwendung von Kripke-Modellen stellen wir uns die Erreichbarkeitsrelation zunächst wie folgt vor: Eine Welt ist dann aus einer Welt erreichbar, wenn in alles gilt, was in gilt. Intuitiver können wir das auch so formulieren, daß die aktuelle Welt darstellt, die alle meine Überzeugungen widerspiegelt (zB. daß Larissa ein Kind ist), während eine vorgestellte Welt ist, in der über mir unklare Sachverhalte zusätzliche Annahmen getroffen sind (zB. daß Larissa blond ist). Betrachten wir dazu die in Abbildung 3.3 gezeigte Kripke-Struktur, die aus vier Welten besteht.


Abbildung 3.3: Ein Kripke-Modell bestehend aus vier Welten.

In der aktuellen Welt sei wahr. Weiter nehmen wir nun an, daß auch in und wahr ist. Deshalb sind unter der eben beschriebenen Vorstellung der Erreichbarkeit diese drei Welten aus der aktuellen Welt erreichbar, genau wie es die Abbildung zeigt. Tatsächlich ist in dieser Vorstellung auch noch aus erreichbar, was in der Abbildung nicht explizit gezeigt ist. Wir nehmen nun zusätzlich an, daß die Formel in und wahr und in und falsch ist.

Nach diesen Vorbemerkungen kommen wir nun zur Motivation, warum sich Kripke-Modelle zur Beschreibung der Semantik einer Ermangelungstheorie besonders eignen. Denken wir uns nämlich als die Konklusion einer erfolgreich angewendeten Ermangelungsregel mit der Rechtfertigung . Dann ist in der aktuellen Welt wahr, da wir ja immer annehmen, daß die Fakten in der aktuellen Welt gelten und erfolgreiche Anwendungen von Ermangelungsregeln zu wahren Aussagen über die aktuelle Welt führen. Dann muß aber auch in allen Welten wahr sein, die wir uns vorstellen können, dh. die von aus erreichbar sind; modallogisch besagt dies, daß auch wahr ist. Zudem muß die Rechtfertigung der Regel als Annahme möglich sein; mit anderen Worten, muß mit den Überzeugungen, die prägen, vereinbar sein in dem Sinne, daß wir uns eine Welt vorstellen können (dh. die erreichbar ist) in der (nicht nur , sondern auch) gilt; dieses wiederum besagt modallogisch . Insgesamt ergibt sich also, daß die angenommene Kripke-Struktur (wie die in Abbildung 3.3 gezeigte) ein Kripke-Modell der Formeln und , also auch von ist. Tatsächlich ist diese Formel auch in der Struktur der Abbildung 3.3 mit den oben beschriebenen Interpretationen wahr. Genau diese Formel wird ein entscheidender Baustein der unten stehenden Definition sein.

Diese Überlegungen zeigen, in welch natürlicher Weise sich eine ermangelungslogisch abgeleitete Formel mittels eines Kripke-Modells semantisch fassen läßt. Dies wollen wir nun formal für eine beliebige Ermangelungstheorie durchführen.

Wir beginnen mit den Fakten . Eingangs sind wir von der Menge von Modellen von ausgegangen. Wie wir jetzt gesehen haben, ist es nötig, anstelle klassischer Modelle nun die Menge von Kripke-Modellen von ins Auge zu fassen, was in der folgenden Definition zum Ausdruck kommt.

Sei eine Ermangelungstheorie{Theorie!Ermangelungs~} und die Menge der Kripke-Strukturen , wobei von keine speziellen Eigenschaften verlangt werden (die zugrundeliegende Modallogik also das modallogische System ist -- siehe Abschnitt 2.11.7). Dann ist die mit assoziierte Klasse von Kripke-Modellen {Klasse!assoziierte Kripke-Modell~} definiert als .
Mit den folgenden Bemerkungen wollen wir diese Definition noch vertrauter machen. In ihr verwenden wir, wie üblich, die Bezeichnung , um auszudrücken, daß unter dem Kripke-Modell wahr ist. besagt dann, wie oben ausführlich erläutert, daß ein Fakt sowohl in der aktuellen Welt, als auch in allen erreichbaren (oder vorstellbaren) Weltengif wahr ist. Wie ersichtlich, handelt es sich hier um die oben besprochene Formel , nur daß bei den Fakten irgendwelche Rechtfertigungen natürlich noch keine Rolle spielen.

Wie bei einer klassischen Formel gehen wir auch hier von der Menge aller Kripke-Modelle zur semantischen Charakterisierung von aus. Dabei schränken wir in keiner Weise ein; dh. insbesondere, daß die oben suggerierte Vorstellung von nur eine von vielen ist. Um den Vergleich mit dem klassischen Fall noch weiter zu vertiefen, sei darauf hingewiesen, daß es zu jedem klassischen Modell von eine ganze Menge von Kripke-Modellen gibt, die sich in der Menge der Welten, in der Interpretationsfunktion oder in der Erreichbarkeitsrelation unterscheiden und nur in der aktuellen Welt übereinstimmen, dh. es gilt für jede der Strukturen.

Wir sprachen oben davon, daß die Antwort auf die Frage der Charakterisierung der zu einer Extension gehörigen Teilmenge von (Kripke-) Modellen auf zwei Ideen fußt, von denen wir die der Kripke-Modelle nun ausführlich besprochen haben. Die zweite Idee beruht auf der Einführung einer Präferenzrelation zwischen verschiedenen Kripke-Modellmengen, die für den Fall klassischer Modelle zum erstenmal in [Eth88] verwendet wurde. Wir geben zunächst die formale Definition und dann eine Reihe von Erläuterungen dazu.

Sei eine Ermangelungstheorie und . Zu zwei verschiedenen Klassen M und von Kripke-Strukturen, für die
erfüllt ist, gelte genau dann, wenn

Für eine Menge von Ermangelungsregeln definieren wir die strikte partielle Ordnung als die transitive Hülle der Vereinigung aller mit . Wir bezeichnen dann die -maximalen Klassen von Kripke-Modellen über als die präferierten Klassen von Kripke-Modellen zu .

Zur Erläuterung dieser Definition bedienen wir uns wieder des Standarbeispiels mit der Faktenmenge und der Regel , die wir der Einfachheit halber gleich in instantiierter Form angegeben haben. Entsprechend der vorangegangenen Definition 3.7.2 gehen wir aus von der zu assoziierten Menge von Kripke-Modellen.

Voraussetzung für die Ermittlung einer Menge , für die , nach Definition 3.7.2 gilt, ist das Erfülltsein der beiden in der Definition genannten Bedingungen. Erstens muß die Voraussetzung der Regel in allen Modellen von gelten, dh. , was nach Definition von gegeben ist. Zweitens muß möglich sein, dh. unter den Modellen von muß es eines geben, in dem es eine erreichbare (vorstellbare) Welt gibt, in der wahr ist. Da die Definition von alle denkbaren Kripke-Modelle umfaßt, ist in auch dasjenige Modell , das aus den beiden Welten und besteht, wobei in diesen beiden Welten die Literale und wahr sind und aus erreichbar ist; denn für dieses Modell gilt offensichtlich , wie es Definition 3.7.2 vorschreibt. Nach Konstruktion gilt nun aber auch .

Um es nochmals allgemein zu formulieren, kann es zu einer Regel und einer Kripke-Modellmenge nur dann eine Menge mit geben, wenn die Voraussetzung von in allen Modellen von gilt und wenn die Rechtfertigung von möglich ist, dh. in mindestens einem Modell gilt.

Sind diese beiden Bedingungen erfüllt, dann präferiert bezüglich diejenige Teilmenge von Modellen, dh. , in denen also gilt und notwendigerweise gilt und möglich ist, in denen nun aber zusätzlich auch die Folgerung von gilt, und zwar auch notwendigerweise. Im Beispiel ergibt sich für

also . In gilt mehr als in , in welchem Sinne das -Zeichen zu lesen ist (denn als Menge ist ja kleiner als ).

Im allgemeinen gibt es nun mehr als eine Regel in der Regelmenge . Hierzu sagt die Definition 3.7.2, daß wir ignorieren, durch welches eine Menge präferiert wurde; dh. wann immer , dann auch . Außerdem verlangen wir von die Eigenschaft der Transitivität.

Zur Bildung einer zu einer Ermangelungstheorie gehörigen präferierten Kripke-Modellmenge gehen wir schließlich aus von , bilden und wählen ein bezüglich dieser Relation maximales Modell. Eine solche präferierte Modellmenge charakterisiert die Menge derjenigen Formeln, die in allen aktuellen Welten dieser Modelle wahr sind. Damit haben wir die gewünschte semantische Charakterisierung der Formelmenge gegeben, die unsere Überzeugungen formuliert und nach der wir am Beginn dieses Unterabschnitts gefragt haben.

In unserem Beispiel besteht lediglich aus und dieses aus dem Paar . ist also das einzige maximale Element und daher die präferierte Kripke-Modellmenge unseres Beispiels. In ihr gilt , die einzig mögliche Extension unseres Beispiels.

Darüber hinaus charakterisiert eine präferierte Kripke-Modellmenge nicht nur die Menge unserer Überzeugungen, sondern macht in den aus erreichbaren Welten der Modelle auch alle impliziten Annahmen explizit, auf denen diese Überzeugungen beruhen.

In [Sch92] findet sich der formale Beweis dafür, daß es zu jeder Extension einer Ermangelungstheorie eine präferierte Modellmenge gibt, in der gilt, und daß es zu jeder präferierten Modellmenge eine Extension gibt, die in gilt. Es handelt sich dabei also um eine Art Korrektheits- und Vollständigkeitssatz für die Ermangelungslogik, der wie folgt lautet.

Sei eine abgeschlossene Ermangelungstheorie. Sei eine Klasse von Kripke-Modellen und eine deduktiv abgeschlossene Menge von Sätzen, so daß

wobei

Dann ist eine konsistente Extension von genau dann, wenn M eine -maximale, nicht-leere Klasse über ist.

Neben der hier beschriebenen Semantik der Ermangelungslogik finden sich in der Literatur noch andere. Eine erste semantische Charakterisierung der Ermangelungslogik wurde in [Luk84] für normale Ermangelungstheorien angegeben. Die erste Semantik für allgemeine Ermangelungstheorien wurde in [Eth88] beschrieben. Wie bereits weiter oben erwähnt, führte Etherington dazu eine durch Ermangelungsregeln induzierte Präferenzrelation zwischen Klassen von Modellen einer betrachteten Faktenmenge ein. Intuitiv gibt eine solche Präferenzrelation die Präferenz einer Ermangelungsregel für speziellere Weltbeschreibungen wieder. Semantisch gesehen verringert dabei die Anwendung einer jeden Ermangelungsregel die Klasse der möglichen Modelle (durch Eliminierung derjenigen, die die Folgerung der Regeln verletzen). Um auch alternativen Extensionen einer gegebenen Ermangelungstheorie gerecht zu werden, wird die Präferenzrelation hier zwischen Klassen von Modellen und nicht wie etwa bei der Zirkumskription zwischen Modellen an sich eingeführt. Extensionen von Ermangelungstheorien werden dann in [Eth88] durch maximale Modellklassen (bzgl. der Präferenzrelation) charakterisiert, die zudem noch eine Zusatzbedingung (die sog. Stabilitätsbedingung) erfüllen müssen. Diese Zusatzbedingung ist im Rahmen des in diesem Unterabschnitt beschriebenen Ansatzes nicht mehr nötig, weil die Stabilität bezüglich der Ableitbarkeit durch die Verwendung von Kripke-Modellen automatisch gewährleistet ist. In diesem Sinne ist die hier dargestellte Semantik natürlicher und formal eleganter.

Ein zusätzlicher Vorteil der hier präsentierten Semantik ist ihre Allgemeinheit. Tatsächlich stellt sie einen Rahmen dar, mit dem verschiedene in der Literatur betrachtete Ermangelungslogiken in einheitlicher Weise semantisch charakterisiert werden können. Neben der Reiterschen Ermangelungslogik sind hier zB. eine Variante von ukaszewicz [Luk88], die kumulative Ermangelungslogik von Brewka [Bre91a] und die bedingten Ermangelungslogiken von Delgrande und Jackson [DJ91] sowie von Schaub [Sch92] zu nennen. Damit werden die Bezüge dieser unterschiedlichen Logiken aus semantischer Sicht verständlich und durchsichtig. Auch fügen sich alle bisher betrachteten Semantiken in diesen Rahmen ein, soweit sie auf der Idee einer Präferenzrelation beruhen. In diesem Sinne fällt die in [dGC90] betrachtete Semantik aus dem Rahmen.



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Christoph Quix, Thomas List, René Soiron
30. September 1996