Wie beim Ansatz mittels Theoriebildung, den wir im letzten Abschnitt
besprochen haben, werden auch in der Ermangelungslogik die Faust- oder
Ermangelungsregeln innerhalb der gegebenen Weltbeschreibung gesondert
behandelt. Auch hier unterscheiden wir also zwischen den Fakten
, einer
Menge geschlossener Formeln, und dem, was wir im vorangegangenen Abschnitt als
die möglichen Hypothesen bezeichnet haben. Dieser letztere Teil wird
nun hier aber zur Definition einer veränderten Logik herangezogen, und nicht,
wie dort, zur Bildung einer konsistenten Theorie.
Betrachten wir unser altes Beispiel der
Eiscreme-liebenden Kinder , wobei das ``normalerweise''
in dieser Fassung der Regel noch nicht zum Ausdruck kommt. In der
Ermangelungslogik erhält diese Regel unter Berücksichtigung des
``normalerweise'' die folgende Gestalt.
In dieser Gestalt ist (wie bei Gentzen) die Regel als
Kalkülregel
aufzufassen. Das heißt, wir gehen aus von irgendeinem (vollständigen)
Kalkül der Prädikatenlogik erster Stufe und erweitern dessen
Ableitungsregeln um diese zusätzliche Regel. Insbesondere ändern wir also
den Kalkül, indem wir einen Teil unseres Wissens in stecken,
während wir in allen bisherigen Ansätzen (mit Ausnahme der Annahme
der Weltabgeschlossenheit
AWA, die sich
jetzt auch als Vorläufer der Ermangelungslogik auffassen läßt) die
Logik selbst unangetastet ließen. Diese Kalküländerung hat eine
irrelevante und eine relevante Komponente.
Aufgrund des Deduktionstheorems [Bib87a] ist
äquivalent mit
. Daß wir also eine in Form einer
Implikationsregel im Wissen enthaltene Regel als Kalkülregel
repräsentieren, macht noch keinen relevanten Unterschied; dies ist also die
irrelevante Komponente. Der entscheidende Unterschied besteht in einer ganz
neuartigen Form von Kalkülregeln. So muß zur Prüfung der Anwendbarkeit
der obigen Regel erst die Menge aller aus
in der bisherigen Weise
ableitbaren Formeln daraufhin untersucht werden, ob sie
enthält. Nur wenn das nicht der Fall ist, darf die Regel angewendet werden.
Da die Ableitbarkeit in der Prädikatenlogik nicht entscheidbar ist, kann
also auch die Anwendbarkeit einer solchen Regel im allgemeinen gar nicht
entschieden werden, während die Anwendbarkeit von üblichen Kalkülregeln
immer entscheidbar ist und sich auf die Prüfung der Prämissen reduziert.
Der soeben beschriebene relevante Anteil bildet das Gegenstück in der Ermangelungslogik zur Einführung von Abnormalitätsprädikaten und deren Minimierung, wie es bei der Zirkumskription erfolgt. Bei letzterer bleibt alles unter der expliziten Kontrolle des Logikprogrammierers, während hier nun die Zügel dem Inferenzmechanismus überlassen bleiben, dessen einzige Schranken durch die geforderte Konsistenz gegeben werden. Hier handelt es sich also um ein wesentlich anderes Vorgehen. Es ist daher nicht verwunderlich, daß es einige Zeit gedauert hat, bis die Zusammenhänge zwischen diesen beiden Sichtweisen zur Nichtmonotonie weitgehend geklärt werden konnten [Kon88].
Wir werden nun diesen neuen Ansatz im einzelnen entwickeln. Insbesondere können die Regeln allgemeiner sein, als durch unser bisheriges Beispiel illustriert ist [Rei80].
Eine Ermangelungsregel (oder auch Faustregel; engl. default rule) ist eine Kalkülregel der GestaltIm gegenwärtigen Kontext werden wir oft kurz von Regel sprechen, wenn Mißverständnisse ausgeschlossen sind. In der ursprünglichen Fassung hat Reiter vor diewobei
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und
Formeln der Prädikatenlogik erster Stufe sind.
heißt die Voraussetzung,
die Folgerung, und jedes
heißt eine Rechtfertigung der Regel. Die Regel heißt abgeschlossen, wenn alle diese auftretenden Formeln keine freien Variablen enthalten.
Bei den so eingeführten Regeln gibt es eine Reihe von wichtigen
Spezialfällen, die wir jetzt besprechen. So kann leer sein, was auch
als die Formel true (bzw. als irgendeine Tautologie) angesehen werden
kann. Der Fall
ist in unserem Zusammenhang uninteressant, da es sich
dann um eine herkömmliche Regel handelt. Im Falle
unterscheiden
wir die folgenden beiden Spezialfälle. Ist nämlich dann
, so
heißt die Regel normal, bzw. ist
für
irgendein
, so heißt die Regel
semi-normal. Praktisch
fallen alle Beispiele in diese beiden Kategorien.
In der klassischen Logik wird sowohl eine Menge W von Axiomen als auch die
Menge der ableitbaren Formeln als Theorie
bezeichnet, weil der Bezug fixiert und eindeutig ist. Da wir nun einen
veränderten Ableitungsbegriff haben und die Eindeutigkeit der Menge der
ableitbaren Formeln nicht mehr gegeben ist (wie wir unten noch sehen werden),
reservieren wir für die Menge der ableitbaren Formeln den Begriff einer
Extension (oder Erweiterung). Man sei sich dabei der Problematik einer
möglichen Zirkularität bewußt, denn die Ableitbarkeit ist über die
Ermangelungsregel durch die Nicht-Ableitbarkeit und diese natürlich wieder
durch die Ableitbarkeit selbst bedingt. Die folgende Fixpunktdefinition
vermeidet den Zirkel.
SeiIn Worten bedeutet die Operationeine Ermangelungstheorie. Zu einer gegebenen Menge
von Sätzen (dh. geschlossenen Formeln) betrachten wir die kleinste Menge
von Sätzen, für die die folgenden drei Bedingungen erfüllt sind.
Bezeichnen wir diese Menge
.
.
- Für jede Regel
gilt, wenn
und
, dann
.
als
. Dann heißt
eine Extension von
, wenn
ein Fixpunkt von
ist, dh.
. Für jede Formel
schreiben wir
.
Eine intuitiv besser zu verstehende Charakterisierung von Extensionen ist die durch das folgende Theorem gegebene.
SeiDie in diesem Theorem gegebene Charakterisierung der Extension einer Ermangelungstheorie ist von konstruktiverer Natur deswegen, weil die Extension in einer Reihe von Iterationsschritten gebildet wird. Die dem Problem innewohnende Zirkularität ist aber nicht verschwunden, sondern äußert sich in der Konsistenzprüfung der Rechtfertigungen bezüglich der gesamten (noch zu findenden) Extension bei jedem Iterationsschritt.eine Ermangelungstheorie, und sei
eine Menge von Sätzen. Wir definieren
und für
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Wir können uns nun allerdings diese ``Konstruktion'' einer Extension anhand
eines Übergangsgraphen
verdeutlichen. Dieser hat die Form eines
azyklischen, gerichteten Graphen, dessen Knoten Mengen von Formeln
repräsentieren. Die (einzige) Wurzel des Graphen repräsentiert die
deduktive Hülle der zugrundeliegende Faktenmenge
.
Jede Kante ist mit einer Ermangelungsregel
markiert. Sie verbindet den Knoten zur Formelmenge
mit einem
Knoten zur Formelmenge
genau dann, wenn
die Voraussetzung
in
enthalten ist und die
Rechtfertigungen
mit
konsistent sind,
dh. wenn
gilt. In diesem Sinne wird der Graph ``zu
groß''. Seine Blätter können nämlich Extensionen repräsentieren,
müssen es
aber nicht.
Um nun zu überprüfen, ob eine ein Blatt markierende Formelmenge eine
Extension darstellt, betrachten wir die Pfade von der Wurzel bis zu dem
betreffenden Blatt. Unter ihnen muß im positiven Fall ein Pfad sein, so daß
jede Rechtfertigung einer eine Kante des Pfades markierenden
Ermangelungsregel konsistent bzgl. der Formelmenge des Blattes ist. Praktisch
ist dieses Verfahren jedoch nur bei endlichen Graphen dieser Art
durchführbar. Ein weiteres Verfahren zur Konstruktion von Extensionen findet
sich in Abschnitt 3.4 von [Eth88].
Mit der Angabe der obigen Definition einer Extension ist natürlich nicht geklärt, ob es zu einer Ermangelungstheorie überhaupt eine Extension gibt. Bevor wir dieser Frage nachgehen, wollen wir aber den Begriff durch Beispiele veranschaulichen.
Wie immer betrachten wir das Eiscreme-Beispiel, zu dem wir die Ermangelungsregel
oben schon einmal angegeben haben. Zu ihr fügen wir jetzt die
Faktenmenge hinzu, die nur aus besteht.
ist hiermit
offensichtlich konsistent, so daß
abgeleitet werden kann. Damit
sind jedoch schon alle deduktiven Möglichkeiten erschöpft, so daß wir
die Extension
erhalten.
Erweitern wir die Faktenmenge nun durch und die Regelmenge durch
so ergeben sich zwei verschiedene Extensionen, und
. Wie wir sehen, ist die Situation wie bei früheren Ansätzen;
erst durch irgendeine Form von Hierarchie läßt sich auch hier das
gewünschte Resultat erzielen. Wir wollen uns nun aber wieder den
grundlegenden theoretischen Fragestellungen, insbesondere der nach der
semantischen Bedeutung und damit zusammenhängend nach der Existenz der
Extension im allgemeinen Fall, zuwenden.
Christoph Quix, Thomas List, René Soiron