Die im weiteren Verlauf dieses Abschnitts angegebene formale Definition ist nur dann in ihren Details einzusehen, wenn wir diese Details vorweg motivieren, was wir nun tun wollen. Wir werden den Leser dabei aber öfter auf die entsprechenden Details der nachfolgenden Definition 2.6.2 hinweisen.
Betrachten wir zunächst den denkbar einfachsten Fall eines Netzes, nämlich
ein lineares Netz, wie es unter der Bezeichnung in der
Abbildung 2.13 dargestellt ist. Zur Veranschaulichung denke man an die
folgende Interpretation:
. Explizit repräsentiert
also die Aussagen, daß Zwitschi ein Kanarienvogel ist,
daß Kanarienvögel Vögel sind und daß Vögel fliegen. Unter den
von
gestützten Aussagen sollten intuitiv natürlich all
diese Aussagen sein (was in Definition 2.6.2 in Form der Gleichung
auch
verlangt wird). Zusätzlich möchten wir aber auch etwa eine Aussage wie
``Zwitschi fliegt'' darunter finden, ermöglicht durch den Pfad
(``Zwitschi ist ein Kanarienvogel, also
ein Vogel; da Vögel fliegen, kann Zwitschi also fliegen''), der also zu den erlaubten
Pfaden zu zählen wäre. In gleicher Weise sollte das in
Abbildung 2.14 gezeigte Netz
mit der Interpretation
und
die Aussage ``Jumbo kann
nicht fliegen'' gestützt werden, ermöglicht durch den Pfad
.
Wie diese Beispiele illustrieren, entstehen erlaubte Pfade durch Aneinanderfügen von vorgegebenen Kanten. Zunächst ist aber offen, in welcher Reihenfolge dieses Aneinanderfügen erfolgen soll. Grundsätzlich gibt es hier zwei Möglichkeiten, nämlich in der Richtung vom Allgemeinen zum Spezielleren, dh. von oben nach unten (engl. top-down), oder umgekehrt (engl. bottom-up). Wie unsere bereits gegebene Pfaddefinition zeigt, haben wir hier im Gefolge von [HTT90] die Richtung von unten nach oben bevorzugt. Dies steht im Gegensatz zu den meisten früheren Ansätzen [RG77, Fah79, Tou86], was auch zu unterschiedlichen Ergebnissen führt, wie wir noch sehen werden. Die hier gewählte Richtung paßt sich der Vorstellung an, daß Pfade deduktive Schlußketten repräsentieren, wie sie weiter oben illustriert wurden. Auch Beweise schreibt man in diesem Sinne von unten nach oben auf (nachdem man sie gefunden hat).
Nicht alle so zusammengesetzten Pfade können erlaubt sein, wie wir schon
weiter oben gesehen haben. Betrachten wir das in Abbildung 2.15
dargestellte Netz als ein weiteres Beispiel, das unter der Bezeichnung ``Nixon
Raute'' (engl. ``Nixon diamond'') bekanntgeworden ist. Sie spielt auf die Interpretation [Rei80] an. Auch hier würden ohne
irgendwelche Beschränkungen die widersprüchlichen Pfade
und
entstehen, die
nicht beide erlaubt werden können. Wegen der dem Beispiel innewohnenden
Symmetrie, läßt sich schwerlich ein syntaktisches Argument für eine
Bevorzugung des einen oder anderen Pfades finden. Unsere skeptische Lösung
verwirft daher in diesem Fall jeden der beiden Pfade als unerlaubt. Damit
bleibt unklar, ob Nixon ein Pazifist ist oder nicht.
Hinter dieser Entscheidung steht das folgende allgemeine Neutralisierungsprinzip: Ein (zusammengesetzter) Pfad wird von einem widersprüchlichen Pfad neutralisiert, es sei denn, dieser ist selbst neutralisiert. Man beachte die beiden in diesem Prinzip enthaltenen Einschränkungen. Zum einen wird die Neutralisierung nur bei zusammengesetzten Pfaden bewirkt, zum anderen kann ein anderwärts neutralisierter Pfad keine Neutralisierung bewirken.
Zur ersteren Einschränkung betrachten wir das in der Abbildung 2.16
gezeigte Netz zB. mit der gleichen Interpretation wie soeben. Da es
sich hier nicht um gesetzte Pfade handelt, würde also die Neutralisierung in
diesem Beispiel
nicht greifen. Jedoch kann dieser Fall nach unserer Definition eines Netzes
nicht auftreten, so daß die Einschränkung tatsächlich nicht nötig
ist, sondern nur zur Verdeutlichung nochmals erwähnt ist.
Zur weiteren Illustration der ersten Einschränkung betrachten wir das in der Abbildung 2.17
gezeigte Netz mit der Interpretation
, die sich
von der zur Abbildung 2.13 gewählten Interpretation nur dadurch
unterscheidet, daß wir jetzt Pinguine statt Kanarienvögel betrachten.
Damit gewinnt dann auch die zusätzliche Kante einen Sinn. Mit dieser
Interpretation sagt uns die Intuition, daß Zwitschi als Pinguin nicht
fliegen kann, weil Pinguine eben nicht fliegen können. Die Aussage, daß
aber Pinguine Vögel sind und diese fliegen können, tritt hier deshalb in
den Hintergrund, weil die Aussage über das Nichtfliegen der Pinguine von
spezifischerem Charakter ist. Mit anderen Worten, eine spezifischere Aussage
kann eine allgemeinere Aussage neutralisieren, aber nicht umgekehrt.
Dies wirft aber die nächste Frage nach einer präzisen Festlegung auf, wann
wir hier von spezifischeren bzw. allgemeineren Aussagen sprechen können. Um
es am Beispiel zu illustrieren, ist deswegen spezifischer als
im Hinblick auf Aussagen bezüglich
, weil es einen Pfad von
nach
durch
gibt. In diesem Sinne liegt also
dem
näher als
. Daher vereinbaren wir im Hinblick auf die
zweite der beiden oben genannten Einschränkungen, daß ein Pfad der
Form
genau dann in einem Netz
neutralisiert (engl.
preempted) wird, wenn es einen Knoten
so gibt, daß
und
einen Pfad der Form
erlaubt. Genau dies ist durch die jeweils letzte Bedingung
in den rekursiven Gleichungen für
und für
in der Definition 2.6.2 weiter unten so
spezifiziert.
Man beachte, daß mit dieser Festlegung nun auch nicht völlig
symmetrische Netze wie das in Abbildung 2.18 dargestellte
keine Lösung der widersprüchlichen Aussagen ermöglichen. Das stimmt mit
unserer Intuition auch überein, wenn wir an das Nixon Beispiel mit der
zusätzlichen Interpretation
denken. Die
Verlängerung des einen Pfades mittels einer eingeschobenen Kante ist
offenbar völlig irrelevant bezüglich der hier diskutierten Problematik.
Dieses Beispiel illustriert auch den letzten Punkt, den es vor der
eigentlichen Definition zu besprechen gibt. Er
betrifft die Vermeidung einer zyklischen Definition. Dazu müssen wir Pfaden
innerhalb eines gegebenen Netzes irgendwie in ihrer Komplexität messen, was
uns dann zu einer induktiven Definition befähigen wird. Wie
(eine Verallgemeinerung von
),
aber auch das in der
Abbildung 2.6.2 gegebene Netz
illustriert, taugt
die einfachste Idee hierzu nicht, nämlich die Länge der Pfade als ihre
Komplexität festzulegen. Denn ob der Pfad
erlaubt werden soll, hängt von dem längeren Pfad
und dieser von dem noch längeren Pfad
ab. Deshalb liegt
die folgende, nächsteinfachere Festlegung nahe. Danach hat jeder Pfad
in einem azyklischen Netz
einen Grad
, der sich als die Länge des längsten Pfades
zwischen dem Anfangs- und Endpunkt von
bestimmt. Zum Beispiel
gilt
. Damit kommen
wir nun endlich zu der folgenden Definition.
Gegeben sei ein azyklisches NetzIn dieser induktiven Definition ist unsere vorangegangene Diskussion zusammengefaßt. Der Induktionsanfang behandelt die gegebenen Aussagen wie besprochen. Die Definition von. Dann seien die Mengen jeweils vom Grade
induktiv wie folgt definiert.
![]()
Die Menge EP der erlaubten Pfade von
ergibt sich damit als die Vereinigung
aller erlaubten Pfade vom Grad
, für alle
. Statt
schreiben wir auch
.
Christoph Quix, Thomas List, René Soiron