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4.8.2 Räumliches Schließen

Neben der inferenziellen Behandlung von Zeit spielt das räumliche Schließen eine zentrale Rolle in unserem täglichen Leben. Nahezu ständig berücksichtigen wir räumliche Relationen bei unseren Wahrnehmungen, Handlungen und Entscheidungen. Man denke dabei etwa an eine Nachrichtensendung im Fernsehen. Fast jede Meldung ist mit einer Landkarte oder bewegten Bildern unterlegt mit dem Ziel, zusammen mit dem gesprochenen Text eine Nachricht zu übermitteln.

Bei der Modellierung des räumlichen Schließens werden im allgemeinen mindestens vier Aufgabengebiete unterschieden. Bei der Verarbeitung zwei- und dreidimensionaler Bilder müssen ua. Objekte, ihre Form, ihre Bewegung, ihre Ausdehnung etc. erkannt werden. Bei der Sprachverarbeitung müssen räumliche Informationen verstanden, repräsentiert und generiert werden. Daneben werden häufig räumliche Metaphern zum Verständnis von Sprache und Texten herangezogen. Bei der Wegeplanung müssen relative Positionen und Entfernungen berücksichtigt sowie Hindernisse erkannt und umgangen bzw. beseitigt werden, damit sich ein Agent in einem ihm uU. unbekannten Gelände zielgerichtet bewegen kann. Bei der Modellierung physikalischer Prozesse müssen Objekte und Vorgänge qualitativ beschrieben und Schlußfolgerungen qualitativer Art gezogen werden (siehe auch Abschnitt 4.9). Aus der Sicht der Kognitionswissenschaft ist es fraglich, ob eine solche Aufteilung in verschiedene Aufgabegebiete sinnvoll ist. Tatsächlich werden in den verschiedenen Gebieten auch ähnliche Repräsentationen und Algorithmen verwendet. Aber eine einheitliche Behandlung erscheint mit den uns heute zu Verfügung stehenden Mitteln noch nicht möglich.

Eine wichtige Rolle in allen Aufgabengebieten spielen sogenannte kognitive Karten. Eine kognitive Karte ist eine Datenstruktur, in der die räumlichen Beziehungen der zu modellierenden Welt repräsentiert sind. Sie enthält also Informationen wie das Auto steht vor dem Haus oder die Bierflasche steht auf dem Tisch. Insofern ähneln kognitive Karten den geographischen Karten. Während jedoch geographische Karten das Wissen vor allem in bildhafter Form repräsentieren, kann das Wissen in kognitiven Karten in beliebigen Datenstrukturen und Prozeduren dargestellt werden. Darüber hinaus müssen kognitive Karten vor allem auch unsicheres und unvollständiges Wissen repräsentieren, und die Genauigkeit bzw. Exaktheit des Wissens wird innerhalb einer kognitiven Karte sehr stark schwanken. Eine kognitive Karte wird im allgemeinen auch nicht vorgegeben, sondern ein Agent wird im Zuge seiner Erfahrungen, die er in der Welt sammelt, auch seine kognitive Karte verändern. In diesem Zusammenhang sei auch noch einmal auf den engen Zusammenhang zwischen räumlichem und zeitlichem Wissen hingewiesen. Die oben betrachtete Bierflasche wird nicht immer auf dem Tisch stehen, sondern beispielsweise nur zwischen 8:30h und 8:45h. Danach hatten die Möbelpacker sie ausgetrunken und wieder in den Bierkasten zurückgestellt.

Während ontologische Probleme des räumlichen Schließens nicht im Vordergrund zu stehen scheinen (nahezu alle räumlichen Schlüsse lassen sich in der Euklidischen Geometrie mit ihren Grundelementen wie Punkt, Vektor usw. ausdrücken) ist die Frage nach einer geeigneten Repräsentation zur Formulierung räumlicher Begriffe und Beziehungen völlig offen. So finden sich beispielsweise verschiedene Repräsentationsformen für Objekte. Objekte werden -- etwa unter Verwendung von assoziativen Netzen (siehe Abschnitt 2.4) oder Konzeptrahmen (siehe Abschnitt 2.5) -- durch ihre Teile beschrieben. Sie werden in sogenannten volumetrischen Beschreibungen durch Kombination räumlicher Grundbausteine repräsentiert. So läßt sich beispielsweise eine Bierflasche in erster Näherung als ein zusammengesetztes Objekt bestehend aus einem Zylinder mit aufgesetzten und abgeschnittenen Kegel repräsentieren. Objekte werden aber auch häufig durch die Angabe ihrer Grenzen beschrieben. Ein typisches Beispiel dafür ist die Darstellung von Gebäuden, Straßen oder Seen in geographischen Karten.

Zum Abschluß dieser sicherlich sehr knappen Einführung in das räumliche Schließen wollen wir an Hand des schon oben betrachteten Möbelpackerszenarios einige typische räumliche Schlüsse illustrieren. Stehen die Möbelpacker in der Eingangshalle und sollen die Bücher im Wohnzimmer in den vor dem Haus stehenden Möbelwagen verladen, dann müssen sie sich zuerst orientieren. Dazu müssen sie zB. feststellen, daß die Eingangshalle nicht das Wohnzimmer ist. Sind die Räume durch Punktmengen repräsentiert, dann erfordert dies das Anwenden von Mengenoperationen auf solchen Punktmengen. Sodann müssen die Packer einen Weg in und aus dem Wohnzimmer finden, der frei von Hindernissen ist. Dies erfordert die Berücksichtigung von Entfernungen, Abständen und relativen Positionen. Türöffnungen müssen erkannt werden, und die Bewegung durch Öffnungen und Räme muß dargestellt werden können. Sind die Möbelpacker erst einmal im Wohnzimmer, dann werden sie die Bücher im allgemeinen nicht einzeln transportieren, sondern sie zuerst in Kisten verstauen. Dazu müssen in den entsprechenden kognitiven Karten Kisten bzw. Container repräsentiert werden, die eine Öffnung haben und in die andere Objekte gelegt werden können. Sodann muß bestimmt werden, ob die Bücher denn überhaupt in die Kisten passen bzw. wie sie sich am besten in die Kisten stapeln lassen. Das Aneinanderstoßen, das Übereinanderlegen oder das Überlappen von Objekten spielt dabei eine wichtige Rolle. Es dürfen auch nicht zu viele und zu schwere Bücher in eine Kiste gepackt werden, da sonst die Packer die Kiste nicht anheben können bzw. die Kiste beim Anheben durchbrechen kann. Die Packer müssen überlegen, wo sie die Kisten anpacken, damit die Kisten nicht abrutschen. Auch muß überlegt werden, in welche Richtung die Kisten bewegt werden sollen. Steht eine Kiste etwa unter einem Tisch, dann muß sie zuerst hervorgezogen werden. Ist die Kiste schwer, dann sollten die Packer nicht nur an einer Seite ziehen, da sonst die Grifföffnung einreißen kann und dadurch die Kiste unbrauchbar wird.

Dieses Szenario mag einen ersten Einblick in das räumliche Schließen vermitteln. Ausführlichere Einführungen in dieses Gebiet finden sich zB. in [McD92, HHP93, Dav90].



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Christoph Quix, Thomas List, René Soiron
30. September 1996