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4.9 Qualitatives Schließen

Das Gebiet des qualitativen Schließens über physikalische Systeme ist ein ausgedehntes, eigenständiges Forschungsgebiet. Es versucht, das ingenieursmäßige Problemlösen zu verstehen und zu unterstützen. Im einzelnen ist darunter hypothetisches Schließen, Testen, Voraussage, Entwicklung, Optimierung, Diagnose, Reparatur uvam. im Zusammenhang mit physikalischen Systemen zu verstehen.

Dementsprechend ist qualitatives Schließen keine spezielle Form der Inferenz, wie man aus der Kapitelüberschrift schließen möchte, sondern eher ein Anwendungsgebiet für die Techniken der Wissensrepräsentation, in dem eine Fülle weiterer Techniken von Bedeutung sind. Angesichts dieser Fülle ist es unmöglich, hier auch nur einen einigermaßen zutreffenden Überblick zu verschaffen. Der vorliegende Abschnitt ist daher eher als Platzhalter zu verstehen, um damit auf die Bedeutung dieses Anwendungsgebietes auch im Hinblick auf weitere Inferenztechniken hinzuweisen. Wir werden uns daher im folgenden mit einigen oberflächlichen Beschreibungen begnügen und verweisen den interessierten Leser auf die umfangreiche Literatur, zu der man über die Kapitel 4 und 7 in [Dav90], das Tutorial [Coh87] sowie die beiden Sonderbände [Bob84, dW91] und den Sammelband [Wed90] einen guten Zugang erhält.

Man kann das qualitative Schließen auch als eine Technik für eine nächste (oder zweite) Generation von Expertensystemen ansehen, bei denen das System auch dann noch zu einer vernünftigen Reaktion in der Lage ist, wenn das gespeicherte Wissen nicht explizit zur Lösung eines gegebenen Problems ausreicht, die Lösung also aus allgemeinerem Wissen erschlossen werden muß. Man spricht in diesem Zusammenhang im Englischen von der ``graceful degradation'', was vielleicht durch den Begriff ``fließender Leistungsabfall'' am besten getroffen wird. Gemeint ist, daß bei einer über das gespeicherte Wissen geringfügig hinausgehenden Problemstellung das System nicht völlig versagt, wie es Expertensysteme der bisherigen Generation in der Regel tun, sondern je nach Schwierigkeit durch höheren Aufwand eine Lösung (vielleicht minderer Qualität) anzubieten in der Lage ist.

Der Terminus ``qualitativ'' in der Gebietsbezeichnung darf nicht in dem Sinne mißverstanden werden, daß in diesem Gebiet quantitative und präzise Techniken völlig verpönt wären. Vielmehr ist es das ausdrückliche Ziel, den Einsatz qualitativer Methoden mit quantitativen Methoden zu verbinden. So führt eine rein qualitative und damit wesentlich effizientere Analyse der Kinematik eines Roboterarmes in vielen Fällen bereits zu hinreichenden Ergebnissen (wie etwa dem Ausschluß einer Kollisionsmöglichkeit), während für die exakte Positionierung dann eben doch die entsprechenden Differentialgleichungen berechnet werden müssen. Die Attraktivität liegt eben gerade in der Kombination beider Möglichkeiten.

Die eben erwähnte Kinematik ist eine der vielen Interessenfelder des qualitativen Schließens. In ihr wird die Bewegung von Konfigurationen starrer Teile (wie etwa einem Roboterarm) untersucht. Die Modellierung solcher Bewegungen mittels exakter Differentialgleichungen führt oft zu außerordentlich schwierigen Problemen der Berechnung, sei es durch den berechnungsmäßigen Aufwand oder auch durch das Auftreten von Singularitäten. Bisweilen genügt aber bereits die Information, in welchem Quadranten eines Koordinatensystems etwa der Winkel zwischen zwei Roboterarmen liegt, um hieraus die Möglichkeit einer Kollision auszuschließen. Formal werden derart qualitative Überlegungen mit sogenannten Bereichsdiagrammen realisiert [JS91, Fal92]. Derartiges räumliches Schließen qualitativer Natur spielt auch in anderen Kontexten (wie dem Verstehen natürlicher Sprache) eine wichtige Rolle [Hab89].

Eine ähnliche Technik wie die mit Bereichsdiagrammen ist das Schließen in Größenordnungen, das auch in der Mathematik beim Ausschluß von möglichen Unterfällen in Form von Abschätzungen oft angewandt wird. Die hierbei verwendeten Schlußverfahren beruhen auf Operationen, die wohldefinierten algebraischen Gesetzen genügen [Rai91], aus denen sich die zugehörigen Berechnungsverfahren ableiten. Auch die Intervallarithmetik (anstelle einer exakten Arithmetik) kann in diesem Zusammenhang erwähnt werden.

Eines der Hauptprobleme beim qualitativen Schließen ist die Modellierung des physikalischen Systems. Dabei sei gleich auf ein mögliches Mißverständnis hingewiesen. Der Begriff ``Modell'' in diesem Sinne ist nämlich ein anderer als der im üblichen logischen Sinne. Hier versteht man vielmehr unter einem Modell des physikalischen Systems in der Regel eine syntaktische Beschreibung, zB. in Form einer prädikatenlogischen Formel. Dabei wird gefordert, daß das physikalische System ein Modell dieser Formel im logischen Sinne ist, dh. daß das System als eine Menge von Teilen aufgefaßt wird und deren Beziehungen eine wahre Interpretation der Formel darstellt. Hier sind die in diesem Buch besprochenen Repräsentationsformalismen alle potentiell für die Modellierung von Bedeutung; insoweit betrifft die hier gemeinte Modellierung wiederum nicht wirklich ein neues und über das bisher Besprochene hinausgehendes Thema.

Eines der bei der Modellierung technischer Systeme sich ergebenden Probleme ist die Zusammensetzung eines Modells, das in dem Sinne minimal ist, daß es nur das für die Problemlösung erforderliche Wissen enthält; eine hierfür geeignete Kompositionstechnik wird zB. in [FF91] vorgestellt. Erwähnt sei schließlich noch, daß sich oft mehrere verschiedene Modellierungen des gleichen Systems als hilfreich erweisen können, je nachdem welche Beziehungen für die gegebene Problemstellung von Bedeutung sind.

Es gibt bereits eine Reihe von Systemen, in denen die Techniken des qualitativen Schließens Anwendung finden. Wir erwähnen zB. das System Qupras [OSSF92].



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Christoph Quix, Thomas List, René Soiron
30. September 1996