Morphologieanalyse und Lexikonaufbau (3. Vorlesung)
Dozent: Gerold Schneider
nach [Fleischer und Barz 95]: Wortbildung wird abgegrenzt einerseits von der Wortformen-Bildung, der Flexion, und andererseits von der Wort-Schöpfung.
der Neue, das Schreiben, der Besuch
Getreide-arten, Atem-züge, Rat-schläge
Wortschöpfung ist sehr selten und tritt vor allem auf bei schallnachahmenden Bildungen.
bimmeln, poltern, quieken, plumsen
Def.: Zusammenfügung von zwei oder mehr Kernmorphemen (oder Kombinationen aus KM und anderen Morphemen) zu einem Kompositum, wobei in der Regel das letzte Glied sowohl die Wortart als auch die Flexionsklasse bestimmt.
Muster:
N + N : (häufig) Bierflasche, Lebensversicherung A + N : (weniger) Breitwand, Grossmaul, Freibrief V + N : (weniger) Waschmaschine N + A : (weniger) pfeilschnell, vogelfrei V + A : (weniger) stinkfaul V + V : (selten) kennenlernen A + V : (selten) weitspringen
Kompositum
Unterschiede in der Linguistik (semantische Ebene):
Hochhaus vs. haushoch; Hausfrau vs. Frauenhaus
Dabei bestehen zwischen den Kompositionsgliedern sehr unterschiedliche Relationen ([Fleischer und Barz 95]: 98-99 unterscheiden beispielsweise für N-N Kompositionen 17 davon), wie etwa:
lokal: Büroarbeit temporal: Tagesfahrt final: Hundeflocken material: Weizenflocken komparativ: Goldorange agentiv: Bienenhonig konstitutional: Blumenstrauss
blaugrün, taubstumm, Strumpfhose
Graukopf, Lästermaul, Grossschnauze, Heisssporn, Schlafmütze
Ohnmacht, Antwort, Aberglaube
hochhaus(X) :- hoch(X), haus(X). bueroarbeit(X) :- buero(Y), lokalrelation(Y,X), arbeit(X).
kleinkariert, Strumpfhose, Augenblick
Def. (explizite Derivation): Zusammenfügung von einem Kernmorphem (oder einer KM-Kombination) mit einem Derivationsmorphem zu einem neuen Wort. Die Derivation (bes. Suffigierung) ändert oft die Wortart. Präfigierung wird oft getrennt behandelt (verändert stärker die Bedeutung aber weniger die syntaktischen Eigenschaften).
Muster (Suffigierung):
N -> A : wissentlich, heilig V -> A : ausführbar, erklärlich, folgsam A -> N : Reichtum, Freiheit, Ewigkeit, Dichte, Feigling N -> N : Menschheit, Freundschaft, Briefchen, Köchin V -> N : Lehrer, Fahrer A -> V : bleichen, faulen, steinigen N -> V : gärtnern, knechten, schneidern, buchstabieren V -> V : säuseln, hüsteln
Wieviele Suffixe werden im Deutschen zur Derivation verwendet?
nach [Hoeppner 80] (S.55-57): > 73 Suffixe
-a Propaganda, Thema -abel komfortabel -ade Blockade, Raffinade -är Sekretär, autoritär -age Staffage, Montage -aille Journaille -al dental, Journal -ant dissonant, Lieferant -ar Bibliothekar, insular -asmus Enthusiasmus, Sarkasmus ...
Leitlinien für die Zusammenstellung der Suffixliste:
Misserfolg, Unschuld, versprechen, durchfahren, darstellen
bind(en) => Bund, Band schreit(en) => Schritt zieh(en) => Zug
eine Art Gegenteil der Derivation. Rückbildung ist "Derivation nicht durchg Hinzufügung, sondern durch Tilgung oder Austausch eines Wortbildungssuffixes mit gleichzeitiger Transposition in eine andere Wortart, wobei der Eindruck entsteht, das rückgebildete Wort sei die - kürzere - Ausgangsform" [Fleischer und Barz 95]: 51
Sanftmut <- sanftmütig notlanden <- Notlandung Elast <- elastisch Emanze <- Emanzipation
Info <- Information Bus <- Omnibus Trafo <- Transformator Hifi <- High Fidelity Frust <- Frustration
häufig auch über Akronyme
LKW, km, Dr., km/h
von Wörtern innerhalb einer Wortfolge. Meistens bei Komposita.
Drittel <- Dritt-Teil
Wortartwechsel ohne Formveränderung
singen > das Singen abgeordneter (Mann) > Abgeordneter
von mehreren KM oder ganzen Wendungen (die letzte Konstituente gibt nicht die Wortart an)
Tunichtgut, Habenichts, Rührmichnichtan
Verschränkung von lexikalischen Einheiten
Instandbesetzung, Smog
Häufig sind Wortleihen aus anderen Sprachen (zurzeit ist Englisch am einflussreichsten):
Homepage, Trottoir, Leasing, Shopville, a priori
Sei W ein durch Komposition oder Derivation gebildetes Wort.
Bsp.: Haustür, Arbeitszeit, Bierfässer, Krankenversicherung
Bsp.: Bund, Schritt
bei expliziter Derivation: Zerlegung möglich durch Abspaltung der Präfixe bzw. Suffixe (geschlossene Liste) und Nachschlagen der Kernmorpheme im Lexikon.
Bsp.: Krankheit, Lehrer, Freundschaft, Versicherung, Misserfolg
(oft) klare semantische Beziehung
Im allgemeinen nicht! Wieso heisst es Reichtum (nicht Reichheit) aber Schönheit (nicht Schöntum)?
Allerdings haben einige Derivationsmorpheme klaren semantischen Charakter und kommen vorzugsweise bei gewissen semantischen Klassen vor. Klare Beispiele sind Druck-er (+HUMAN) oder Vier-tel (+NUMERAL, von Teil). -tum kommt von mhd. Tuom (Herrschaft, Urteil, Ruhm, Ehe, Besitz) und wurde vorerst nur bei +HUMAN angewendet (Herzogtum, Banditentum, Unternehmertum), aber inzwischen verliert es dieses Charakteristikum (Reichtum, Heiligtum, Wachstum). Das mit einer verbalen Basis produktive Derivationsmorphem -ung kennt keine semantische Einschränkungen. Trotzdem lässt es sich nicht frei überall verwenden: *Tret-ung, *Geh-ung, *Abnehm-ung, *Erleb-ung etc.
für Komposition: Morphologisch kein Problem (bis auf Fugenelemente), jedoch semantisch problematisch!
für Derivation: Nur wenn klar ist, welche Derivationssuffixe noch produktiv sind und mit welchen Kernmorphemen sie kombiniert werden können (siehe -er, -tum, -ung oben)
Anmerkung: Nach Duden Grammatik (4. Auflage): "Rund ein Drittel der z.B. in einem durchschittlichen Zeitungstext vorkommenden Wortbildungen ist nicht in Wörterbüchern verzeichnet."
Hierzu ein einfaches Wortanalyseprogramm in Prolog.
(nach [Hoeppner 80]; Beispiel für ein frühes Analysesystem, das ohne Lexikon arbeitet.)
Idee: Eingabe ist ein Wort ohne Flexionsendung, dessen Wortartenzugehörigkeit bekannt ist. Zu ermitteln ist, ob das Wort mit Hilfe eines Derivationssuffixes gebildet wurde. D.h. Ziel ist die Isolierung des Stammes. Danach ist zu klären, wie das Genus und von welcher semantischen Art das Wort ist.
Skizze S. 63
Wort ::= [Wortstamm]1 + [Suffix]* Minimallänge Kombinierbarkeit spez. Restriktionen
Vorgehen:
Gegeben: Suffixe, Regeln für Kombinierbarkeit, Restriktionen
-chen --> Substantiv (Wörtchen vs. schnarchen) -heit --> Substantiv (Gesundheit vs. gescheit) -keit --> Substantiv (Übelkeit) -haft --> Adjektiv (ernsthaft vs. Einzelhaft) -lich --> Adjektiv (heimlich) -sam --> Adjektiv (heilsam vs. Balsam) -ar --> Substantiv / Adjektiv (Kommissar vs. atomar)
Bsp.: Verwu-nd-bar-keit wäre aufgrund der Suffixlisten möglich. Jedoch können -nd und -bar nie zusammen auftreten.
==> `Verwund-bar-keit'
Bsp.: -ung darf nicht auf Graphemfolge -pr folgen.
==> Ursprung enthält nicht das Suffix -ung.
Bsp.: -ade darf nicht auf -l oder -m folgen.
==> Schublade und Made enthalten nicht das Suffix -ade.
Anmerkung: Da die Umlaute in SPERBER durch ae, oe, ue umschrieben werden, ergeben sich Probleme, die bei direkter Repräsentation nicht auftreten.
Bsp.: -el darf nicht auf -u folgen
==> Spuel-ung enthält nicht das Suffix -el.
-chen, -e, -el, -en, -er, -ig, -in, -isch, -lein, -lich, -ling, -nis, -ung.
Da die Umlautung nicht immer auftritt, wird über eine Tabelle festgehalten, wann ein Umlaut zu reduzieren ist. Bsp.:
gruen-lich ist nicht zu reduzieren:
grün
roet-lich ist zu reduzieren: rot
Bsp.: Reg-el-ung und Reg-ul-är gehören zur selben Suffixklasse, während Reg-ion zu einer anderen gehört.
-ismus --> MASK (Pragmatismus) -ist --> MASK (Statist, Pessimist) -chen --> NEUTR (Häuschen, Mäntelchen) -tum --> NEUTR (Altertum, Abenteuertum; ausser: Reichtum) -ik --> FEM (Informatik, Statistik) -heit --> FEM (Krankheit, Gelegenheit) -keit --> FEM
-- > ist nicht eindeutig möglich. Ist -er ein Derivationssuffix, so ist das Genus maskulin. Jedoch gibt es viele Wörter, die -er als Bestandteil des Wortstamms enthalten.
Bsp.: Mask und Fem: Leiter
Mask und Neutr.: Laster, Bauer
Fem. und Neutr.: Steuer
Wortklasse der Basis (nicht implementiert)
(Bei Nomen ist der semantische Gehalt der Derivation am klarsten erkennbar. Bei Adjektiven und Verben scheint die syntaktische Funktion der Derivation (= die Veränderung der Wortart) im Vordergrund zu stehen.) Grundlage ist eine heuristische semantische Ontologie mit 20 Merkmalbezeichnungen. Diese sind sehr heterogen. Während z.B. PERS (Personenbezeichnung) und EIGE (Eigenschaftsbezeichnung) sich ausschliessen, kann DIMN (Diminutiv) durchaus mit PERS oder LOKL (Lokalität) kombiniert werden. NEGT (Negation) ist gar nur für eine bestimmte Suffixkombination vorgesehen (-los-ig-keit).
PERS ling Feig-ling EIGE er-keit Bitt-er-keit PERS; INST ier-er Prob-ier-er; Kop-ier-er (PERS; SACH) DIMN el-chen (Mäd-el; Steng-el) -chen
Ärztin -> belebtes Objekt Krankkeit -> Eigenschaft
Mit dieser Information kann z.B. die Subjekt-Objekt Mehrdeutigkeit im folgenden Satz eliminiert werden, wenn man weiss, dass das Verb bemerken ein belebtes Subjekt fordert.
Diese Krankheit hat eine junge Ärztin zuerst bemerkt, als sie ...