Eine GPSG für das Deutsche

Dozent: Martin Volk

Ich stütze mich für diese Vorlesung vor allem auf [Uszkoreit 87]. Detaillierte Hintergrundinformationen (auch bzgl. der Implementationsaspekte) finden sich auch online unter [Volk 88].

Wichtige Unterschiede des Deutschen zum Englischen


Verbstellung in Haupt- und Nebensatz

Ähnlich wie in der englischen GPSG-Version geht auch Uszkoreit zunächst von grundlegenden ID-Regeln aus: (Ich habe Uszkoreits Notation an die Notation in [Gazdar et al. 85] angepasst, um eine einfachere Vergleichbarkeit zu gewährleisten.)

V2  --> H[5]                              (kommen, schlafen)
V2  --> H[6], N2[Case Acc]                (kennen, suchen)
V2  --> H[7], N2[Case Dat]                (helfen, vertrauen)
V2  --> H[8], N2[Case Dat], N2[Case Acc]  (geben, zeigen)
V2  --> H[9], V3[+dass]                   (wissen, glauben)

Anders als [Gazdar et al.] geht Uszkoreit von 3 Bar-Ebenen aus, wobei die dritte Ebene nur dem V zugewiesen wird und die Satzebene markiert. Alle als V2 markierten Konstituenten sind also Verbalphrasen im klassischen Sinne. Auf diese Weise kann er das Merkmal Subj vermeiden. Ein mit dass beginnender Nebensatz wird z.B. mit folgender Regel eingeführt:

V3[+dass]  --> dass, V3[-MC]

Das Merkmal MC steht für `Main Clause' und dient (in erster Annäherung) zur Unterscheidung von Haupt- und Nebensätzen. Betrachten wir zunächst Nebensätze. Nehmen wir an, wir wollen den folgenden Satz analysieren:

dass Peter dem Mann das Buch zeigt

Uszkoreit geht von flachen Satzstrukturen aus, da die traditionelle Aufteilung eines Satzes in NP und VP dazu führt, dass bei Subjekt-Objekt Inversion entweder das Subjekt ein Bestandteil der VP ist, oder dass NP und VP sich überkreuzende Strukturen erfordern. Man betrachte als Illustration den folgenden Satz:

Dem Mann zeigt Peter das Buch.

Durch die folgende Metaregel führt man das Subjekt als Schwesterknoten der Objekte und des Verbes ein:

V2  --> W
  >==>
V3  --> N2[Case Nom], W

Damit kann z.B. die folgende Regel erzeugt werden:

V3  --> N2[Case Nom], H[8], N2[Case Dat], N2[Case Acc]

Baum fuer dass-Satz

Es ist offensichtlich, dass eine Umstellung der Wortreihenfolge innerhalb von V3[-MC] eine Entscheidungsfrage ergibt.

zeigt Peter dem Mann das Buch

Diese Umstellung ist erlaubt, da es sich um eine ID-Regel handelt. Man muss nur ausschliessen, dass eine ungrammatische Reihenfolge zugelassen wird, die weder im Haupt- noch im Nebensatz noch in einer Frage vorkommen kann.

* Peter dem Mann zeigt das Buch

Dies erreicht Uszkoreit über das Merkmal MC und die LP-Regeln:

V[+MC]  < X
X       < V[-MC]

Diese LP-Regeln bewirken, dass das Verb im Nebensatz [-MC] nach allen Geschwisterknoten auftritt und ansonsten vor allen Geschwisterknoten. Bleibt zu klären, wie eine Verbzweitstellung im Hauptsatz zu beschreiben ist. Uszkoreit geht davon aus, dass die Konstituente vor dem finiten Verb prinzipiell topikalisiert ist. Er beschreibt Topikalisierung als die Bewegung einer Konstituente aus der flachen Satzstruktur auf die Topikposition am Satzanfang. Diese Bewegung wird mit Hilfe des Slash-Merkmals erfasst, das über eine Metaregel eingeführt wird.

V3[-Aux]  --> W, X
  >==>
V3/X  --> W

Es sei daran erinnert, dass `W' für eine Menge von Kategorien stehen kann. `X' steht für eine beliebige Konstituente. Mit dieser Metaregel können z.B. die folgenden Regeln erzeugt werden:

V3[-Aux]/N2[Case Nom] -->  H[8], N2[Case Dat], N2[Case Acc]
V3[-Aux]/N2[Case Dat] -->  H[8], N2[Case Nom], N2[Case Acc]
V3[-Aux]/N2[Case Acc] -->  H[8], N2[Case Dat], N2[Case Nom]

Passend dazu gibt es dann das folgende Regelschema:

V3[+Fin]  --> X[+Top], V3[+MC]/X

Dieses Regelschema umfasst u.a.:

V3[+Fin]  --> N2[+Top, Case Nom], V3[+MC]/N2[Case Nom]
V3[+Fin]  --> N2[+Top, Case Dat], V3[+MC]/N2[Case Dat]
V3[+Fin]  --> N2[+Top, Case Acc], V3[+MC]/N2[Case Acc]

Baum fuer Hauptsatz

An dieser Struktur ist bemerkenswert, dass die Position des Verbes weiterhin durch das Merkmal [+MC] festgelegt ist. Es bleibt lediglich festzuhalten, wie die Reihenfolge von topikalisierter Konstituente und Restsatz ist. Das wird durch folgende LP-Regel geleistet:

[+Top] < X

Reihenfolge innerhalb der Verbalgruppe

Die Reihenfolge der Elemente einer deutschen Verbalgruppe ist spiegelbildlich zur englischen Verbalgruppe:

could have been seen
gesehen worden sein könnte

Uszkoreit geht von folgenden ID-Regeln für die Verbalgruppe aus.

V2[+Aux, +Perf]  --> H[1], V2[+Psp]   (haben, sein) als Perfekt-Aux
V2[+Aux]        --> H[2], V2[+Bse]    (müssen, können, dürfen)
V2[+Aux]        --> H[3], V2[+Pas]    (werden) als Passiv-Aux
V2[+Aux, +Fin]  --> H[4], V2[+Bse]    (werden) als Futur-Aux

Diese ID-Regeln bilden das Rohmaterial, das (a) geschachtelt werden kann und (b) über die folgende Metaregel in Sätze eingebaut werden kann:

V2[+Aux]  --> H, V2
  >==>
V3  --> H, V3

Die Anwendung dieser Metaregel auf die Perfekt-Aux ID-Regel ergibt:

V3[+Aux, +Perf]  --> H[1], V3[+Psp]

Damit erhalten wir Strukturen für die Sätze

Wird Peter dem Mann das Buch gezeigt haben?
... [dass] Peter dem Mann das Buch gezeigt haben wird.
Dem Mann wird Peter das Buch gezeigt haben.

Baum mit Hilfsverb vorn

Baum mit Hilfsverb 2nd Pos

Um zu vermeiden, dass die folgenden ungrammatischen Ketten von der Grammatik gedeckt werden, ist zusätzlich noch eine FCR notwendig:

Dem Mann werden[-Fin] Peter das Buch gezeigt haben.
FCR: [+MC] ==> [+Fin]

Abtrennbare Verbpräfixe

Sätze, bei denen abtrennbare Verbpräfixe isoliert auftreten, bedürfen einer gesonderten Behandlung.

Der Mann schlief ein.
Er holt seinen Sohn am Bahnhof ab.

Da sich das Auftreten eines abtrennbaren Verbpräfixes über alle Subkategorisierungsklassen von Vollverben erstreckt, werden die grundlegenden ID-Regeln mit Hilfe der folgenden Metaregel erweitert:

V2[-Aux] --> W
  >==>
V2[+y] --> W, SepPref[+y]    mit y aus {ab, an, ein, ..., zu}

Damit kann man z.B. die folgenden ID-Regeln erzeugen:

 V2[+ein]  --> H[5], SepPref[+ein]                (einschlafen)
 V2[+an]   --> H[8], N2[Case Dat], N2[Case Acc], SepPref[+an]  

Man beachte: Wenn ein Verb V einer bestimmten Subkategorisierungsklasse angehört, muss das zugehörige präfigierte Verb P_V nicht zur gleichen Subkategorisierungsklasse gehören. Im Gegenteil, häufig wird es zu einer anderen Klasse gehören. Beispiel: V = zeigen fordert obligatorisch ein Dativ- und ein Akkusativobjekt. Aber bei P_V = anzeigen ist das Dativ-Objekt optional. Der Unterschied zwischen V und P_V beschränkt sich nicht nur auf die Subkat-Klasse sondern gilt oft auch für das geforderte Perfekt-Hilfsverb (man vergleiche schlafen und einschlafen).

Die Konstituente SepPref[+y] wird nach folgendem Schema zu dem jeweiligen Präfix abgeleitet:

SepPref[+y]  --> y

Die Position des abgetrennten Präfixes wird durch folgende LP-Regel festgelegt:

X2  <  SepPref

Baum mit abtrennbarem Praefix

Da die Metaregel für die Topikalisierung zulässt, dass ein beliebiger Tochterknoten von V3 ins Vorfeld verschoben werden kann, so gilt das auch für einen abgetrennten Präfix.

Weiter geht es nicht.
Runter kommt er immer.

In einigen Fällen ist aber eine solche Topikalisierung nicht zulässig.

* Teil nimmt er immer.
* Zu stellt er den Brief.

Die Unterscheidung zwischen den möglichen und unmöglichen Fällen kann nur mit semantischen Kriterien erfolgen. weiter, runter tragen in viel eigenständigerem Masse zur Bedeutung des jeweiligen Verbes bei als teil oder zu. Anders formuliert: Die Bedeutung von zustellen und teilnehmen ist nicht mehr auf Präfix und Verb zerlegbar.

Variable Ordnung im Mittelfeld

Für die variable Ordnung der Konstituenten im Mittelfeld gelten (nach Uszkoreit) die folgenden Richtlinien:

Dann wird Peter dem Mann das Buch zeigen.
Dann wird ihm Peter das Buch zeigen.

Uszkoreit wählt einige dieser Richtlinien und beschreibt sie durch folgende LP-Regeln.

[Case Nom]  < [Case Dat]
[Case Nom]  < [Case Acc]
[Case Dat]  < [Case Acc]
[-Focus]    < [+Focus]
[+PersPron] < [-PersPron]

Damit würden jedoch die folgenden Sätze als ungrammatisch bewertet, da sie je eine LP- Regel verletzen.

Dann wird der Doktor    ihn            sehen.
          [Nom, -PPron] [Acc, +PPron]  

Dann wird  ihn           der Doktor    sehen.
          [Acc, +PPron] [Nom, -PPron]   

Deswegen schlägt Uszkoreit folgende Modifikation des LP-Mechanismus vor:

  1. Es gibt die Möglichkeit mehrere elementare LP-Regeln zu einer komplexen LP-Regel zusammenzufassen. (Die 5 LP-Regeln zur Beschreibung der Mittelfeldordnung sind eine solche komplexe LP-Regel.)
  2. Die LP-Bedingung einer komplexen LP-Regel ist die Disjunktion der LP-Bedingungen ihrer Teile. (D.h. irgendeine der elementaren LP-Regeln innerhalb einer komplexen LP-Regel kann verletzt werden, wenn diese Verletzung durch die Anwendung einer anderen elementaren LP-Regel aus dem Komplex ausgeglichen wird.)
Dann will der Doktor  dem Mann    die Pille geben.
          [Nom, -Foc] [Dat, +Foc] [Acc, -Foc]

Dann will der Doktor  die Pille   dem Mann    geben.
          [Nom, -Foc] [Acc, -Foc] [Dat, +Foc]

* Dann will der Doktor  die Pille   dem Mann    geben.
            [Nom, -Foc] [Acc, +Foc] [Dat, -Foc]

Beachte: Es gibt viele Fälle, wo die Prinzipien der unmarkierten Reihenfolge und des Nicht-Fokus vs Fokus durch kontrastive oder emphatische Betonung überschrieben werden kann. Forderung: Man müsste einen Formalismus haben, bei dem man verschiedene Grade von Grammatikalität einer Äusserung bestimmen kann.

Komplexe LP-Regeln sprechen für folgende Regelmässigkeit: Der Grad der Markiertheit einer Reihenfolge steigt proportional zur Anzahl der verletzten Regeln. Ausserdem: Obwohl Uszkoreit auch pragmatische Prinzipien mit syntaktischen Merkmalen kodiert, gesteht er ein, dass die entstehenden Verletzungen nicht so ungrammatisch erscheinen, wie Verletzungen der rein syntaktischen LP-Regeln.

* Dann will der Doktor   die Pille  dem Mann   geben.
            [Nom, -Foc] [Acc, +Foc] [Dat, -Foc]

Die folgende Sequenz verdeutlicht, wie die Grammatikalität zunimmt, wenn weniger elementare LP-Regeln verletzt werden.

Dann hatte einen grossen Laster ihm es gegeben.
Dann hatte ein Buch ihm es gegeben.
Dann hatte einen Ball ihm Peter gegeben.
Dann hatte ihm den Ball ein Freund gegeben.
Dann hatte ihm ein Freund den Ball gegeben.

Beachte: Die `unmarkierte' Reihenfolge hilft, einen Satz zu disambiguieren, der aufgrund der Flexionsinformation mehrdeutig ist:

Dann hat das Nilpferd das Krokodil gebissen.

Problem: Unmarkierte Reihenfolge

Es ist schwierig, die unmarkierte Reihenfolge festzulegen, wenn andere als die oben genannten Bedingungen auftreten. Bisher haben wir diesbezüglich keinen Unterschied gemacht zwischen grammatischer Funktion (Subjekt, indirektes und direktes Objekt) und syntaktischer Kategorie (Nominativ-NP, Dativ-NP, Akkusativ-NP). Diese Vereinfachung wird z.B. dann problematisch, wenn Verben mit zwei Akkusativ-Objekten behandelt werden sollen.

  Peter hatte die Kinder das neue Gedicht abgefragt.
? Peter hatte das neue Gedicht die Kinder abgefragt.

Eine weitere Beobachtung: Die unmarkierte Reihenfolge von Subjekt und Dativ-Objekt wird in Passivsätzen vertauscht.

Wem ist das Fahrrad geschenkt worden?
unmk: Ich glaube, dass dem Kind das Fahrrad geschenkt wurde.
mark: Ich glaube, dass das Fahrrad dem Kind geschenkt wurde.

These: Die Reihenfolge von Objekt und Subjekt in Passivsätzen ist identisch mit der unmarkierten Reihenfolge in Aktivsätzen. Daraus folgert man, dass die Oberflächenform einer Konstituente (z.B. Kasus) nicht ausreicht, die Reihenfolge festzulegen. Gleiches gilt für Verben deren Subjekt nicht den Agenten der Handlung repräsentiert.

unmk: ... dass dem Mann das Buch gefällt.
mark: ... dass das Buch dem Mann gefällt.

Fazit: Zur Bestimmung der Reihenfolgebedingungen benötigt man über Kategorie und Kasus hinaus auch Informationen über grammatische Funktionen und thematische Rollen (Agent vs. Patient).

Subjektlose Verben

Es gibt Verben im Deutschen, die kein Subjekt erfordern. Diese Verben stammen alle aus dem Bereich der Empfindungen (grauen, dürsten, frieren).

Mir graut vor dir.
Mich friert es.

Wenn wir diese Verben über Verbalphrasen in die Grammatik aufnehmen wie alle anderen Subkat-Klassen, so gilt es zu verhindern, dass die Metaregel angewendet werden kann, die die Subjekt-NP hinzufügt. Dass könnte über ein spezielles Merkmal geschehen. Um die ansonsten unmotivierte Hinzunahme eines solchen Merkmals zu verhindern, schlägt Uszkoreit vor, die subjektlosen Verben über eine V3-Regel unmittelbar einzuführen:

V3  --> N2[Case Acc], H[n]         (dürsten, frieren, gelüsten)
V3  --> N2[Case Dat], H[n], P2     (grauen, gruseln, schaudern)

Expletives es

Im Deutschen gibt es das Wort es in verschiedenen Funktionen:

  1. als Personalpronomen
    Es schläft ruhig.
    Dann schläft es ruhig.
  2. als Subjekt von Wetterverben oder anderen agentlosen Verben
    Es regnet.
    Dann regnet es.
    Es trug ihn aus der Kurve.
  3. als vorwegnehmendes Pronomen in herausgezogenen Sätzen oder in subjektlosen Sätzen als Agens-Pronomen
    Es ist gut, dass Peter kommen konnte.
    Gut ist es, dass Peter kommen konnte.
    Dass Peter kommen konnte, ist gut.
    * Dass Peter kommen konnte, ist es gut.
    Es graut mir vor dir.
  4. als expletives Pronomen (in Vorfeldstellung), wenn keine andere Konstituente topikalisiert wurde (auch bei unpersönlichem Passiv).
    Es kamen zwei Männer zur Tür herein.
    * Zwei Männer kamen es zur Tür herein.
    Es wurde bis zum Morgen getanzt.
    Es wird gegangen!

In den Funktionen 1.-3. ist es nicht auf den Satzanfang beschränkt. Die Stellung kann also durch die Topikalisierungs-Metaregel geregelt werden. In Funktion 4. muss es im Vorfeld stehen. Es ist jedoch kein Komplement des Verbs und hat keine eigene Bedeutung. Deshalb :

V3[+Fin]  --> es, V3[+MC]
es  <  V3

Damit sind jedoch nicht alle Fälle abgedeckt. Wenn V3 ein pronominalisiertes Subjekt enthält, darf das expletive es nicht auftreten:

* Es kam er zur Tür herein.

Zusammenfassung

Uszkoreit 87 hat eine GPSG für das Deutsche vorgeschlagen, die folgende Eigenarten aufweist:


Martin Volk <volk@ifi.unizh.ch>
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