Wortbildung: Komposition und Derivation

Morphologieanalyse und Lexikonaufbau (3. Vorlesung)

Dozent: Martin Volk

Übersicht


Abgrenzung der Wortbildung

nach [Fleischer und Barz 95]: Wortbildung wird abgegrenzt einerseits von der Wortformen-Bildung, der Flexion, und andererseits von der Wort-Schöpfung.

Abgrenzung zur Flexion

Abgrenzung zur Wort-Schöpfung

Wortbildung
ist die Produktion von Wörtern auf der Grundlage und mit Hilfe vorhandenen Sprachmaterials.
Wortschöpfung
besteht darin, dass Wörter aus Lauten geschaffen werden, die (noch) nicht bedeutungstragend in der Sprache existieren.

Wortschöpfung ist sehr selten und tritt vor allem auf bei schallnachahmenden Bildungen.

bimmeln, poltern, quieken, plumsen

Arten der Wortbildung

1. Komposition

Def.: Zusammenfügung von zwei oder mehr Kernmorphemen (oder Kombinationen aus KM und anderen Morphemen) zu einem Kompositum, wobei in der Regel das letzte Glied sowohl die Wortart als auch die Flexionsklasse bestimmt.

Muster:

N + N : (häufig)        Bierflasche, Lebensversicherung
A + N : (weniger)       Breitwand, Grossmaul, Freibrief
V + N : (weniger)       Waschmaschine
N + A : (weniger)       pfeilschnell, vogelfrei
V + A : (weniger)       stinkfaul
V + V : (selten)        kennenlernen
A + V : (selten)        weitspringen

Kompositum

Unterscheide in der Linguistik (semantische Ebene):

determinative Komposita (häufig):
das zweite Glied wird durch das erste näher bestimmt:
Hochhaus vs. haushoch; 
Hausfrau vs. Frauenhaus
kopulative Komposita (selten):
die einzelnen Teile fügen sich addierend zu einem neuen Ganzen:
blaugrün, taubstumm, Strumpfhose
`possessive' Komposita (selten):
eine Person oder ein Gegenstand wird nach charakteristischen Teilen benannt (meist idiomatisierte Verbindungen):
Graukopf, Lästermaul, Grossschnauze, Heisssporn, Schlafmütze
Partikelkomposition (selten):
Komposition jenseits der obigen Muster mit z.B. Partikelmorphemen; historisch meist produktiver:
Ohnmacht, Antwort, Aberglaube

2. Derivation

Def. (explizite Derivation): Zusammenfügung von einem Kernmorphem (oder einer KM-Kombination) mit einem Derivationsmorphem zu einem neuen Wort. Die Derivation (bes. Suffigierung) ändert oft die Wortart. Präfigierung wird oft getrennt behandelt (verändert stärker die Bedeutung aber weniger die syntaktischen Eigenschaften).

Muster (Suffigierung):

N -> A :        wissentlich, heilig
V -> A :        ausführbar, erklärlich, folgsam
A -> N :        Reichtum, Freiheit, Ewigkeit, Dichte, Feigling
N -> N :        Menschheit, Freundschaft, Briefchen, Köchin
V -> N :        Lehrer, Fahrer
A -> V :        bleichen, faulen, steinigen
N -> V :        gärtnern, knechten, schneidern, buchstabieren
V -> V :        säuseln, hüsteln

Wieviele Suffixe werden im Deutschen zur Derivation verwendet?

nach [Hoeppner 80] (S.55-57): > 73 Suffixe

-a	Propaganda, Thema
-abel	komfortabel
-ade	Blockade, Raffinade
-är	Sekretär, autoritär
-age	Staffage, Montage
-aille	Journaille
-al	dental, Journal
-ant	dissonant, Lieferant
-ar	Bibliothekar, insular
-asmus  Enthusiasmus, Sarkasmus
...

Leitlinien für die Zusammenstellung der Suffixliste:

  1. Anzahl soll im Interesse eines effizienten Identifizierungsverfahrens klein gehalten werden.
  2. Die deutsche Gegenwartssprache erfordert die Aufnahme von einigen Fremd- bzw. Lehnsuffixen (z.B. -age für Staffage, Montage, Blamage)
  3. fachsprachliche Suffixe wurden nicht aufgenommen (z.B. -id für Chlorid, Jodid in der Chemie)
  4. Unproduktive, nur wenig belegte Suffixe wurden nicht aufgenommen (z.B. -icht in Kehricht, Dickicht)
  5. Nur in Verbindung mit Eigennamen auftretende Suffixe werden nicht aufgenommen (z.B. -sche in Müllersche)
  6. Glieder, die nicht eindeutig Derivationssuffixe sind (sondern auch als Kompositionsglieder interpretiert werden können) werden nicht aufgenommen (z.B. -voll in mühevoll; -gut in Saatgut)
2.1. Spezielle Arten der Derivation

3. Andere Arten der Wortbildung

3.1. Rückbildung

von kürzeren Wörtern aus längeren

Info    <- Information
elend   <- elendiglich
Schirm  <- Regenschirm
Bus     <- Omnibus
3.2. Kurzwortbildung

über Akronyme

LKW, km, Dr., km/h
3.3. Wortkürzung

von Wörtern innerhalb einer Wortfolge. Meistens bei Komposita.

Drittel  <- Dritt-Teil
3.4. Konversion

Wortartwechsel ohne Formveränderung

singen                  > das Singen
abgeordneter (Mann)     > Abgeordneter
3.5. Zusammenrückungen

von mehreren KM oder ganzen Wendungen (die letzte Konstituente gibt nicht die Wortart an)

Tunichtgut, Habenichts, Rührmichnichtan
3.6. Wortkreuzungen

Verschränkung von lexikalischen Einheiten

Instandbesetzung, Smog

Algorithmische Aspekte der Wortbildung

Sei W ein durch Komposition oder Derivation gebildetes Wort.

  1. Kann man W algorithmisch in seine Bestandteile zerlegen?
    für Komposition:

    Zerlegung möglich durch Abspaltung der Flexionsendung (evtl. Rückführung auf Stammform), Segmentierung von W in mögliche Glieder (und Fugenlaute) und Nachschlagen der Glieder im Lexikon.

    Bsp.:  Haustür, Arbeitszeit, Bierfässer, Krankenversicherung

    selten eindeutige semantische Beziehung (Bsp. Holzkiste)

    für Derivation:

    bei impliziter Derivation: nur über Lexikon

    Bsp.: Bund, Schritt

    bei expliziter Derivation: Zerlegung möglich durch Abspaltung der Präfixe bzw. Suffixe (geschlossene Liste) und Nachschlagen der Kernmorpheme im Lexikon.

    Bsp.: Krankheit, Lehrer, Freundschaft, Versicherung, Misserfolg

    (oft) klare semantische Beziehung

  2. Kann man für W algorithmisch entscheiden, ob es eine gültige Form der Sprache ist? (analog zu Flexion oder Satzsyntax)

    Im allgemeinen nicht! Wieso heisst es Reichtum (nicht Reichheit) aber Schönheit (nicht Schöntum)?

  3. Kann man W algorithmisch erzeugen?

    Komposition: Morphologisch kein Problem (bis auf Fugenelemente), jedoch semantisch problematisch!

    Derivation: Nur wenn klar ist, welche Derivationssuffixe noch produktiv sind und mit welchen Kernmorphemen sie kombiniert werden können.

    Anmerkung: Nach Duden Grammatik (4. Auflage): "Rund ein Drittel der z.B. in einem durchschittlichen Zeitungstext vorkommenden Wortbildungen ist nicht in Wörterbüchern verzeichnet."


Das SPERBER-Derivationsanalyse-System

(nach [Hoeppner 80]; Beispiel für ein frühes Analysesystem, das ohne Lexikon arbeitet.)

Idee: Eingabe ist ein Wort ohne Flexionsendung, dessen Wortartenzugehörigkeit bekannt ist. Zu ermitteln ist, ob das Wort mit Hilfe eines Derivationssuffixes gebildet wurde. D.h. Ziel ist die Isolierung des Stammes. Danach ist zu klären, wie das Genus und von welcher semantischen Art das Wort ist.

Skizze S. 63

Wort ::=        [Wortstamm]1  +         [Suffix]*
                Minimallänge            Kombinierbarkeit 
                                        spez. Restriktionen

Vorgehen:

Gegeben: Suffixe, Regeln für Kombinierbarkeit, Restriktionen

  1. längstes mögliches Suffix wird abgetrennt (verbleibende Minimallänge des Wortes: 3)
  2. mögliches Suffix hat Wortarteninfo, diese wird mit geg. Wortart abgeglichen. Bsp.:
    -chen --> Substantiv (Wörtchen       vs. schnarchen)
    -heit --> Substantiv (Gesundheit     vs. gescheit)
    -keit --> Substantiv (Übelkeit)
    -haft --> Adjektiv   (ernsthaft      vs. Einzelhaft)
    -lich --> Adjektiv   (heimlich)
    -sam  --> Adjektiv   (heilsam        vs. Balsam)
    -ar   --> Substantiv / Adjektiv  (Kommissar  vs.  atomar)
    
  3. bei mehreren möglichen Suffixen wird geprüft, ob diese zusammen (in dieser Reihenfolge) auftreten können.

    Bsp.: Verwu-nd-bar-keit wäre aufgrund der Suffixlisten möglich. Jedoch können -nd und -bar nie zusammen auftreten.

    ==> `Verwund-bar-keit'
  4. Spezifische Bedingungen für ein mögliches Suffix werden überprüft.

    Bsp.: -ung darf nicht auf Graphemfolge -pr folgen.

    ==> Ursprung enthält nicht das Suffix -ung.

    Bsp.: -ade darf nicht auf -l oder -m folgen.

    ==> Schublade und Made enthalten nicht das Suffix -ade.

    Anmerkung: Da die Umlaute in SPERBER durch ae, oe, ue umschrieben werden, ergeben sich Probleme, die bei direkter Repräsentation nicht auftreten.

    Bsp.: -el darf nicht auf -u folgen

    ==> Spuel-ung enthält nicht das Suffix -el.

  5. Umlautung des potentiellen Wortstamms wird überprüft (Umlautung bei den Derivationssuffixen kann nur bei -ur und -tum vorkommen und wird als allomorphe Form behandelt). Die folgenden Suffixe können Umlautung im Wortstamm auslösen:
    -chen, -e, -el, -en,  -er, -ig, -in, -isch, -lein, -lich, -ling, -nis, -ung.
    

    Da die Umlautung nicht immer auftritt, wird über eine Tabelle festgehalten, wann ein Umlaut zu reduzieren ist. Bsp.:

    gruen-lich ist nicht zu reduzieren: grün
    roet-lich ist zu reduzieren: rot

  6. Homographe Wortstämme werden über Suffixklassen disambiguiert.

    Bsp.: Reg-el-ung und Reg-ul-är gehören zur selben Suffixklasse, während Reg-ion zu einer anderen gehört.

Nutzen der Derivationsanalyse


Zusammenfassung

  1. Zur Wortbildung gehören hauptsächlich Komposition (sehr produktiv im Deutschen) und Derivation. Daneben auch noch Rückbildung, Kurzwortbildung, Konversion, Zusammenrückungen und Wortkreuzungen.
  2. Ein Kompositum kann automatisch in seine Einzelteile zerlegt werden, wenn alle Kompositionsglieder bekannt sind. Dabei kommt es häufig zu Segmentierungsmehrdeutigkeiten (z.B. Ministern -> Minister+n oder Mini+Stern).
  3. Ein Derivativum kann automatisch in seine Einzelteile zerlegt werden, wenn Kern und Derivationsmorphem(e) bekannt sind. Dadurch können oft semantische Eigenschaften erkannt werden.
  4. Sowohl Komposita als auch Derivativa nehmen häufig eine eigenständige Bedeutung an, die sich nicht mehr unmittelbar aus ihren Bestandteilen herleiten lässt. Diese Wörter müssen dann selbst ins Lexikon eingetragen werden.

Martin Volk
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