3.2. Morphologische Typologien
3.2.1. Morphologischer Sprachbau
Isolierender Sprachbau
Definition 3.2.1. Sprachen mit isolierendem Sprachbau
haben keine gebundenen Morphe (Derivationsaffixe, Flexionsendungen).
- Komposition
ist die einzige morphologische Operation.
- Grammatische Beziehungen
und “morphologische” Merkmale werden durch selbständige Wörter und durch
Wortstellungsregularitäten ausgedrückt.
- Mandarin-Chinesisch oder Vietnamesisch gelten als typische Vertreter dieses Sprachbaus.
Flektierender Sprachbau
Definition 3.2.2 (auch fusionierender Sprachbau). Sprachen mit flektierendem Sprachbau
haben viele gebundene Morphe, welche komplexe morphologische Merkmalswerte ausdrücken, und eine
enge Verbindung mit den Kernmorphen eingehen.
- Grammatische Beziehungen
und “morphologische” Merkmale werden durch Affixe ausgedrückt.
- Die Form eines gebundenen Morphems ist stark abhängig vom Stamm.
- Einzelne Laute können komplexe Information kodieren (Portmanteau-Morph): Das -o in Spanisch
“hablo” (ich spreche) drückt 1. Person Singular Präsens Indikativ aus.
- Identische Morphe drücken unterschiedliche Funktionen aus (Synkretismus
): Das -en in deutschen Verbformen kodiert Infinitiv, 1. oder 3. Person Plural.
- Latein oder Deutsch gelten als typische Vertreter dieses Sprachbaus.
Agglutinierender Sprachbau
Definition 3.2.3. Sprachen mit agglutinierendem Sprachbau
verketten gebundene Morpheme hintereinander, welche jeweils eindeutig ein einzelnes Merkmal
ausdrücken.
- Türkisch oder Finnisch gelten als typische Vertreter dieses Sprachbaus.
- Beide Sprachen haben Vokalharmonie, d.h. die Vokalisierung eines gebundenen Morphems
ist abhängig vom letzten Stammvokal.
Beispiel 3.2.4 (Türkisch “evlerimin” = “meiner Häuser”).
Siehe Tabelle 3.1 auf Seite 88.
Haus | Plural | mein | Genitiv |
ev | ler | im | in |
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Tabelle 3.1: | Agglutination im Türkischen |
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Das e in “ler”, das i in “im” und das i in “in” entsteht durch Vokalharmonie. Weitere Information z.B.
unter http://www.tuerkisch-trainer.de/Sprachkurs/Grundlagen.htm.
Polysynthetischer Sprachbau
Definition 3.2.5. Sprachen mit polysynthetischem Sprachbau
verketten gebundene und freie
Morpheme hintereinander zu langen Wörtern.
- Inuit-Sprachen gelten als typische Vertreter dieses Sprachbaus.
Beispiel 3.2.6 (Inuktitut ). Siehe Tabelle 3.2 auf Seite 89.
Paris+mut+nngau+juma+niraq+lauq+sima+nngit+junga |
Paris Terminalis-Kasus Weg-nach wollen sagen-dass Vergangenheit Perfektiv Zustand Negativ 1sg-intransitiv |
Parimunngaujumaniralauqsimanngittunga |
Ich sagte niemals, dass ich nach Paris gehen will. |
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Fazit: Morphologischer Sprachbau
- Die klassische morphologische Sprachtypologie
wurde zwischen 1818 (A.W. Schlegel) und 1836 (W. V. Humboldt) entwickelt.
- Die Klassifikationskriterien vermischen teilweise Form
, d.h. die morphologischen Mittel, und Funktion
, d.h. grammatische bzw. lexikalische Bedeutung.
- Die moderne Universalienforschung
der Linguistik hat die klassische Konzeption kritisiert und die notwendigen begrifflichen
Unterscheidungen herausgearbeitet.
- Echte Sprachen realisieren die morphologischen Typen nicht in Reinform
. Je nach Phänomen sind die Typen unterschiedlich stark repräsentiert. Sogar Mandarin-Chinesisch
kennt einige wenige Affixe.
- Deutsch hat sowohl flektierende, agglutinierende und polysynthetische Züge. Bei welchen
Phänomenen? Flektierender Bau (selbstverständlich) bei der Flexion von Nomen,
Adjektiven und Verben. Komparation der Adjektive ist agglutinierend. Bei der schwachen
Verbflexion lässt sich ein Zeit-Modus-Suffix und ein Numerus-Person-Suffix isolieren,
welches in dieser Reihenfolge agglutinierend erscheinen muss. Die Kompositabildung im
Deutschen ist polysynthetisch, da Komposita mehr als ein freies Morphem ausdrücken
können.
3.2.2. Morphologische Prozesse
Segmental vs. Suprasegmental
Definition 3.2.7 (Suprasegementale Merkmal nach [GLüCK 2000]). “Lautübergreifende bzw. sich
nicht auf die sequentielle Abfolge von Segmenten beziehende Merkmale lautsprachl. Äußerungen, die
sich signalphonet. im Grundfrequenz- und Intensitätsverlauf sowie der temporalen Ausprägung
einzelner Segmente und Pausen äußern.”
Akzentwechsel
engl. prodúce (Verb) vs. próduce (Nomen), contáct (Verb) vs. cóntact (Nomen).
Affigierung
Definition 3.2.8 (Affix). Ein Affix
ist ein gebundenes segmentales Morphem, das zur Bildung einer derivierten oder flektierten Form einer
Basis (Wurzel oder Stamm) hinzugefügt wird.
Einteilung der Affixe nach Stellung
- Präfigierung
: Ein Präfix
steht vor der Basis. (Ge
-schrei)
- Suffigierung
: Ein Suffix
folgt der Basis. (schrei-en
)
- Zirkumfigierung
: Ein Zirkumfix
umfasst die Basis. (ge
-schrie-en
)
- Infigierung
: Ein Infix
unterbricht die (Wurzel-)Basis. (lat. vi-n
-cere; vgl. Perfekt “vici”)
- Transfigierung
: Ein unterbrochenes Affix unterbricht eine Basis an mindestens einer Stelle.
Beispiel: Transfigierung im Arabischen
Siehe Abb. 3.3 auf Seite 96.
Reduplikation
Definition 3.2.9. Bei der Reduplikation
wird eine Wurzel oder ein Stamm ganz oder teilweise (anlautende Silbe) verdoppelt. Lautliche
Veränderungen sind möglich.
Beispiel 3.2.10 (Teilreduplikation und Vollreduplikation).
- Lateinisch: pello (“treibe”) - pepuli (“trieb”)
- Yukatekisch: tusah (“log”) - tu’tusah (“log unverschämt”); xupah (“verschwendete”) -
xu’xupah (“verschwendete sinnlos”)
- Deutsch: tagtäglich
- Vollreduplikation: Sumerisch: kur (“Land”) - kurkur (“Länder”)
- Welche Funktion scheint die derivationelle Reduplikation auf Grund der Beispiele zu
kodieren?
Innere Modifikation/Abwandlung (Substitution)
Definition 3.2.11 (auch innere Abwandlung oder Substitution). Bei der inneren Modifikation
wird in der Basis ein Element oder Merkmal durch ein gleichartiges ersetzt.
Beispiel 3.2.12 (Ablaut (apophony)).
- Deutsch: si
nge - sa
ng - gesu
ngen
Beispiel 3.2.13 (Umlaut (engl. umlaut)).
Suppletion
Definition 3.2.14. Bei der Suppletion
wird ein Stamm (in einem Flexionsparadigma) vollständig durch einen anderen ersetzt.
Suppletivformen findet man typischerweise bei hochfrequenten Lemmata
. Suppletion kann als extreme Form der Substitution (innere Modifikation) betrachtet werden.
Beispiel 3.2.15.
- Lateinisch: ferro - tulli - latum (“tragen”)
- Deutsch: bin - ist - sind - war etc.
- Deutsch: gut - besser - am besten
Subtraktion
Definition 3.2.16. Bei der Subtraktion
wird eine Basis gekürzt.
Beispiel 3.2.17 (Subtraktion bei französischen Adjektiven).
Bildung des maskulinen Genus durch Tilgung des auslautenden Stammkonsonanten. Graphematisch
könnte es sich auch um e-Suffigierung an das Maskulinum handeln. Warum lautlich nicht?